Die zwei Gesichter des Lavendels
Lilafarbene Felder bis zum Horizont: Von Juni bis August verwandelt sich die Provence in ein Blütenmeer aus Lavendel und Lavandin. Der Unterschied zwischen den beiden Sorten ist gravierender als nur ein paar Buchstaben.

Ein süßlich-blumiger Duft liegt in der Luft: Es ist Hochsommer, und der Lavendel blüht. Jack Lincelé, der in der fünften Generation Lavendel anbaut, inspiziert mit seiner Tochter Marilou die Felder, auf denen die Pflanzen in endlosen Reihen angelegt sind. Die 20-Jährige ist mit ihrem Vater auf dem familieneigenen Anwesen „Château du Bois“ beim Dörfchen Lagarde d'Apt unterwegs, um zu lernen, wie das kostbare Lavendelöl hergestellt wird: von der Aussaat auf den Feldern, über die Pflege der Pflanzen bis hin zur Ernte, Destillation und Abfüllung.

Jack bückt sich, zupft eine von den länglichen Blüten ab und saugt den betörenden Duft mit der Nase ein. Beide begutachten die Basis der Blüte, die aus einem kleinen, becherartigen Kelch besteht. „In den feinen Härchen auf Kelch und Blüten befinden sich die Drüsen, die das ätherische Lavendelöl enthalten“ erklärt Jack. „Sie geben den charakteristischen Duft ab.“

Vater und Tochter befinden sich in den Hügeln des Vaucluse, in rund 1100 Metern über dem Meeresspiegel. Nur in einer Höhe von 800 bis 1500 Metern wächst der Echte Lavendel. Für Familie Lincelé und die Provence ist er ein wahres Geschenk. Denn hier sind die Böden karg und trocken. Weil es in der Region keinen Humus und wenig Regen gibt, haben die Landwirte kaum Alternativen.
Lavendel ist genügsam, gedeiht selbst auf steinigem und staubigem, am liebsten aber auf kalkhaltigem Boden. Wenn es regnet, gut. Wenn nicht, versorgen sich die Pflanzen mit ihren langen Wurzeln aus der Tiefe mit Feuchtigkeit.
Erst im 19. Jahrhundert beginnt der systematische Anbau von Lavendel in der Provence, vor allem, weil sich Grasse zur Hauptstadt der Parfümindustrie entwickelt und die Nachfrage nach Lavendelöl rasant steigt. „Hier bei uns wuchs Lavendel wild in den Bergen und hatte nur eine geringe wirtschaftliche Bedeutung“, erzählt Jack. „In den 1890er-Jahren war mein Urgroßvater Venance als einer der Ersten in dem unwegsamen Gelände unterwegs, schnitt Lavendel mit einer Sichel ab und experimentierte mit der Pflanze. Durch Destillation gewann er ihr Öl – zunächst für den Hausgebrauch, später als Lebensgrundlage für die Familie.“ Jacks Urgroßvater zählt zu den Pionieren unter den Lavendellandwirten. Seine Leidenschaft und sein Know-how sind das Erbe für die nachfolgenden Generationen.
Aber längst nicht alles, was in der Provence blaulila blüht, ist auch Echter Lavendel. Denn die meisten Bauern kultivieren inzwischen Lavandin. Während Echter Lavendel eine lange Tradition hat – bereits die Römer nutzten ihn u. a. für ihre Körperhygiene und für medizinische Zwecke – wird Lavandin erst in den 1920er-Jahren zufällig entdeckt. Er ist eine Kreuzung zwischen Echtem Lavendel und Speik-Lavendel und entstand auf natürliche Weise in Regionen, in denen beide Pflanzenarten nebeneinander wuchsen. Insekten übertrugen die Pollen von einer Art zur anderen und schufen so eine neue Sorte.

Die Landwirte bemerken damals schnell, dass diese Hybridpflanze noch anpassungsfähiger ist und auch in niedrigeren Lagen gedeiht, zum Beispiel auf dem Plateau de Valensole. Darüber hinaus liefern die größeren Büsche mit ihren dicht wachsenden, länglichen Ähren drei- bis viermal mehr ätherisches Öl als Echter Lavendel. In den 1960er-Jahren wird Lavandin zur billigeren Hauptquelle für Lavendelöl, vor allem, weil die Nachfrage nach kostengünstigen Ingredienzen für Reinigungsmittel, Seifen und Kosmetikprodukte steigt. Aktuell dominiert Lavandin die kultivierten Flächen mit 80 bis 90 Prozent – in der Provence und weltweit.
Die meisten Besucher der Provence kennen den Unterschied zwischen Echtem Lavendel und Lavandin nicht. So wie Anne und ihr Mann Stefan, die Südfrankreich regelmäßig bereisen und sich am liebsten in einem der Dörfer des Luberon einquartieren. „Und zwar immer dann, wenn der Lavendel blüht, also so Mitte Juni bis Mitte Juli“, sagt die 50-Jährige. „Wir sind gerne auf den ‚Routes de la Lavande‘ unterwegs, denn sie sind die beste Möglichkeit, ganz viele Lavendelfelder zu sehen und fotografieren.“

Ihr Mann ergänzt: „Auch wenn wir seit Jahren hierherkommen, entdecken wir jeden Sommer neue, herrlich gelegene Felder. Schließlich erstreckt sich das Wegenetz über mehr als 1000 Kilometer!“ Manche Etappen legen die beiden Hobbyfotografen per Auto zurück, manche per Fahrrad und wieder andere zu Fuß. „Mein persönliches Highlight ist der Lavendelpfad in Sault“, schwärmt Anne. „Der Rundgang durch die Lavendelfelder ist ein wahres Fest für die Sinne – es duftet, es summt, es schimmert. Mal tiefviolett, dann wieder fliederfarben. In der Sonne scheinen die Farben regelrecht zu glühen!“
Auf den Infotafeln hat das Ehepaar erstmals etwas über die Existenz von Lavandin erfahren. Was für Besucher wie Anne und Stefan keinen großen Unterschied ausmacht, ist für Familie Lincelé essenziell. Als die meisten Landwirte anfangen, Lavandin im großen Stil zu kultivieren, setzt Jacks Vater Georges – entgegen dem Trend – weiterhin ausschließlich auf Echten Lavendel. „Im Laufe seines Lebens pflanzte er 80 Hektar Felder mit Echtem Lavendel und erweiterte das Familienanwesen auf 360 Hektar geschützte Natur“, erzählt Jack. „Er wurde zum leidenschaftlichen Verfechter des Echten Lavendels angesichts synthetischer Produkte und geklonter Lavendelsorten, die den Markt überschwemmten.“
Jack und seine Kinder treten stolz in die Fußstapfen des Vaters, Großvaters und Urgroßvaters. Ausschlaggebend für ihre Motivation sind die lange Tradition, die einzigartige Qualität sowie der unbestritten bessere Duft des Echten Lavendels. Denn der hat eine feine, blumige Duftnote, während Lavandin scharf und mentholartig riecht. „Statt durch Samen wird Lavandin ausschließlich durch Stecklinge vermehrt. Diese Art der Vermehrung sorgt dafür, dass jede neue Pflanze genetisch identisch mit der Mutterpflanze ist“, erklärt Marilou. „Weil es sich um Klone handelt, produzieren sie das gleiche ätherische Öl. Dessen Wirkung ist für medizinische Zwecke nicht ausreichend.“ Ihr Vater nickt: „Bei Echtem Lavendel ist jede Pflanze anders und produziert ätherische Öle in unterschiedlicher Zusammensetzung und mit viel größerem Molekularreichtum. Dies ist für die therapeutische Wirkung sehr wichtig.“
Familie Lincelé verkauft ihr ätherisches Öl hauptsächlich an Osteopathen und Heilpraktiker. Ihre Kunden seien an der im Vergleich zu Lavandin deutlich besseren antimikrobiellen, antiseptischen, beruhigenden und heilenden Wirkung der aus dem Echten Lavendel gewonnenen ätherischen Öle interessiert, die sie z. B. für Aromatherapien, die Behandlung von Angst- und Schlafstörungen, Erkältungen, Magen-Darm-Beschwerden oder Gelenkbeschwerden einsetzen.
„Echter Lavendel ist zwar teurer, aber trotzdem erzeugen die unzähligen Produkte, die fälschlicherweise als ‚Lavendel‘ bezeichnet werden, eine große Verwirrung in den Köpfen der Verbraucher“, seufzt Jack, „unsere Familie wollte einen Beitrag zur Aufklärung leisten.“ 1991 gründet sein Vater Georges das Musée de la Lavande in Coustellet, einem kleinen Ort in der Nähe von Gordes, um den kulturellen, historischen und therapeutischen Wert des Echten Lavendels zu würdigen.

Seit 2020 leitet Jacks Sohn Max das Museum, das einen Einblick in die Geschichte des Lavendels in der Region vom 16. Jahrhundert bis heute gibt. Für die jährlich 60.000 Besucher aus aller Welt bietet das Museum Führungen durch die Ausstellung mit 350 Sammelobjekten sowie diverse Workshops an. Seit 2022 gibt es am selben Standort ein Labor, in dem die Wirkstoffe in den Lavendelölen überprüft und ständig verbessert werden.

Ein Besuch in den Lavendelfeldern der Familie Lincelé ist für Touristen nicht erlaubt. „Die Blütezeit ist eine heikle Zeit“, erklärt Marilou. „Jede Berührung der Pflanzen kann die Ausbeute an ätherischem Öl und die Qualität des Endprodukts beeinträchtigen. Darum ist es so wichtig, dass Besucher dort, wo es erlaubt ist, Lavendelfelder zu betreten, auf den offiziellen Wegen bleiben.“
Weitaus gefährlicher als Touristen, die durch die Felder spazieren, sind winzig kleine Zikaden, die den Echten Lavendel mit dem Bakterium Stolbur-Phytoplasma infizieren. Lavandin bleibt wegen seines für Insekten abstoßenden herb-mentholartigen Geruchs verschont.

Im Jahr 2000 werden die Lavendelbauern erstmals mit der existenzbedrohenden „Gelbsucht des Lavendels“ konfrontiert, die die betroffenen Pflanzen innerhalb weniger Jahre verkümmern und schließlich vollständig absterben lässt. „Die Insekten ernähren sich vom Pflanzensaft und übertragen dabei das Phytoplasma von infizierten auf gesunde Pflanzen“, beschreibt Jack die Katastrophe. „Zahlreiche Kollegen mussten ihre gesamten Bestände ausreißen.“ Erst nach ca. fünf Jahren Ruhezeit sei eine Neubepflanzung möglich. Die Anbaufläche des Lavendels sowie die Produktion von ätherischem Lavendelöl in der Provence sinkt in den letzten Jahrzehnten durch den Befall dramatisch. Bulgarien hat Frankreich inzwischen als Weltmarktführer vom Thron gestoßen.
Familie Lincelé verliert durch den Zikadenbefall „nur“ ca. 20 Prozent ihrer Lavendelfelder. „Wir haben alte Schriftstücke studiert und festgestellt, dass die Zikaden bereits vor mehr als einem Jahrhundert erwähnt wurden“, erzählt Jack. „Damals verursachten sie allerdings keine Probleme für den wilden Lavendel. Wir folgerten daraus, dass unser Lavendel heute vermutlich aufgrund des Klimawandels nicht mehr widerstandsfähig genug ist.“
Der Einsatz von Insektiziden kommt wegen der negativen Auswirkungen auf Bienen, Hummeln und andere natürliche Bestäuber, die für die Vermehrung des Lavendels unerlässlich sind, nicht in Frage. Stattdessen setzt das Familienunternehmen erfolgreich auf ökologischen Landbau, um die Artenvielfalt von Insekten, Bakterien und Bodenpilzen zu maximieren. Letztere zum Beispiel vergrößern mit ihren feinen Pilzfäden die Wurzeloberfläche des Lavendels und helfen ihm, mehr Wasser und Nährstoffe aufzunehmen. „Außerdem züchten wir gezielt Pflanzen“, sagt Marilou, „die sich als resistent gegen den Befall erwiesen haben.

Wir säen die Samen direkt auf den Feldern aus und ziehen sie nicht, wie traditionell üblich, in Baumschulen groß.“ Ihr Vater ergänzt: „Wir pflügen den Boden nicht mehr um, um das fragile Ökosystem zwischen den verschiedenen Bodenschichten nicht zu stören. Erst wenn Lavendel zehn Jahre alt ist, reißen wir ihn aus und pflanzen Getreide wie Roggen, Dinkel und Gerste, damit sich der Boden erholen kann.“
Von fünf Samen überlebt erfahrungsgemäß nur einer. „Ein natürlicher Selektionsprozess“, sagt Jack. „Auf die Natur ist Verlass – sie wählt die widerstandsfähigsten aus.“ Das ist angesichts einer weiteren Bedrohung essenziell. Denn auch in den Bergen der Haute-Provence führt die globale Erwärmung zu milderen Wintern, in denen der Lavendel nicht ruhen kann, und zu Sommern mit zu wenig Regen, sodass selbst die genügsamsten Pflanzen immer häufiger vertrocknen.

Trotz all dieser Widrigkeiten ist sich Familie Lincelé einig: Den Anbau des Echten Lavendels aufzugeben, kommt nicht in Frage – die Liebe zu der Pflanze ist zu groß. „Das Unglaublichste, so kurz vor der Ernte“, schwärmt Jack, „ist der Duft. Subtil und leicht, und dennoch intensiver, als wenn man das ätherische Öl in einer Flasche riecht. Die Sonne lässt die in den Blumen enthaltenen Moleküle verdampfen und umhüllt den gesamten Berg mit dem Duft. Was kann es Schöneres geben?“
