Dem Tiger auf der Spur

Der Ranthambore-Nationalpark in Rajasthan gilt als das beste Revier für Tigerbeobachtung weltweit. Was unser Autor kaum glauben mag!

Dem Tiger auf der Spur

Am ersten Abend im Hotel schaute ich nach dem Dinner an der Bar vorbei, wo sich alle anderen bereits versammelt hatten, um die Beute des Tages zu präsentieren. Inder und Amerikaner, Skandinavier und auch etliche deutsche Tierfreunde hielten sich gegenseitig Kameradisplays und Handys vor die Nase und zeigten, was sie tagsüber fotografiert hatten: Tiger. Große Tiger. Kleine Tiger. Fressende Tiger. Gähnende Tiger. Schlafende Tiger. Tiger, Tiger, Tiger. Jeder lobte jeden für seine Fotos und Videos, die Bar summte und brummte von all den „Oh my God!“-Ausrufen und den „Wow, that’s awesome!“-Bewunderungen. Weil ich ja gerade erst angereist war, bekam ich nicht nur jedes Foto gezeigt, sondern auch detailliert erzählt, was mich erwarten würde: zwei Safaris täglich, eine frühmorgens, eine nach einer ausgedehnten Lunchpause. Fantastische Guides, die jede Ecke des Ranthambore-Nationalparks kennen würden, und natürlich jeden Tiger. Quasi jede Fahrt in den Park sei ein Erfolg. Vor lauter Aufregung kontrollierte ich im Zimmer akribisch jede Kameraeinstellung und jeden Akku. Dann ging ich ins Bett und stellte den Wecker auf halb sechs.

Tigersafari mit Computerunterstützung

Rajasthans Ranthambore-Nationalpark gilt tatsächlich als weltweit bestes Beobachtungsrevier für Tiger. Bei der letzten Zählung lebten 88 der Tiere in dem 280 Quadratkilometer großen Schutzgebiet. Tiger sind Katzen und Katzen sind Streuner, morgens und abends gehen sie auf Pirsch. Essen suchen. Revier kontrollieren. Die Ranger wissen, wo die Grenzen dieser Territorien verlaufen. Eigentlich müssten sie bloß an den Reviergrenzen parken und abwarten, bis einer vorbeikommt, aber wenn das alle machen würden, gäbe es Stau. Deswegen hat die Verwaltung den Park in Sektoren unterteilt.

Jeden Morgen lost ein Computerprogramm jedem Sektor eine bestimmte Anzahl Jeeps zu. Und den Jeeps werden dann wiederum Passagiere zugelost, die in den Lobbies ihrer Hotels darauf warten, dass sie eingesammelt werden.

Man glaubt gar nicht, wie bitterkalt es in Indien sein kann, wenn man frühmorgens in einem offenen Jeep zur Tigersuche aufbricht! Dementsprechend froh waren wir, als wir endlich im Park waren und anhielten. Die Sonne stand noch tief, wärmte aber schon. Wir stünden gut, meinte Raj, unser Ranger: genau an einer Stelle, an der regelmäßig Tiger vorbei kommen würden. Wir könnten ruhig auch kurz die Augen schließen und uns ausruhen. Stille sei wichtig auf der Tigersuche – Tiger entdecke man nämlich mit den Ohren. Am erfolgreichsten sei man, wenn man auf die Geräusche achte, die ein nahender Tiger auslöst. Das Hufgetrampel fliehender Antilopen. Aufgeregt tschilpende Vögel. Oder kreischende Affen. Von all dem war gerade allerdings nichts zu hören. Nach einer halben Stunde Totenstille weckte Raj alle, die eingeschlafen waren. „No tiger.“ Wir fuhren weiter.

Wilderei erfolgreich bekämpft

"No tiger" hätte es vor ein paar Jahren übrigens fast für den kompletten Park geheißen. In den Jahrzehnten nach 1973, als Indira Gandhi die Großkatzen unter Schutz gestellt hatte, war die indienweite Population allmählich von 1200 auf 3600 Tiere angewachsen. Als man die Tiger dann vor einigen Jahren erneut zählte, kam man nur noch auf 1411. In einigen Schutzgebieten lebte kein einziger mehr, was aber offenbar niemandem aufgefallen war, und auch aus Ranthambore waren die meisten Tiger verschwunden. Der indischen Polizei gelang es, einen internationalen Händlerring auszuheben.

Für die Tiger kam das zu spät, sie waren auf dem chinesischen Schwarzmarkt gelandet, für 50.000 US-Dollar pro Fell. Vor allem in Ranthambore waren die Wilderer erfolgreich – nachdem sie herausgefunden hatten, dass die Ranger ihre Unterkünfte aus Angst vor den Tigern niemals nach Einbruch der Dunkelheit verließen. Auch dann nicht, wenn zweihundert Meter entfernt Schüsse fielen.

"Aber das war früher!" Dip war der Ranger, mit dem ich nachmittags unterwegs war (und auch am nächsten Tag sein würde). Offenbar sah er die Ehre seines Berufsstands in Gefahr, jedenfalls erzählte er ununterbrochen davon, wie erfolgreich die Ranger-Arbeit in den vergangenen Jahren gewesen sei, fast verdoppelt hätte sich die Zahl der Tiger in Ranthambore! Wir standen übrigens, als er das erzählte, irgendwo im Park, mal wieder, saßen in unserem Jeep und hörten den Vögeln zu. Sie klangen wie immer. Anders als ich waren meine Mitpassagiere tiefenentspannt, anders als ich hatten sie bereits Tiger gesehen, alle hatten das, in unterschiedlichen Jeeps in unterschiedlichen Sektoren.

Die wichtigsten Beutetiere von Tigern sind Hirsche und Wildschweine.

Ihre Fotos waren beeindruckend. Auf einigen waren die Tiger so nah, dass man ihre Zähne zählen konnte, während sie gähnten. Dann raschelte es im Gebüsch vor uns, und Dip hob die rechte Hand, und es wurde mucksmäuschenstill im Jeep. Wir warteten. Es raschelte wieder.  Sämtliche Objektive im Jeep zielten in eine Richtung. Wo sich jetzt das Gebüsch teilte und – ein Wildschwein auf die Lichtung trat.

Zwei Tage später stand dann bereits meine fünfte Safari an – und auch schon die vorletzte. Am Vorabend hatte ich an der Bar viel Trost und Mitleid bekommen, als alle anderen mal wieder ihre Fotos präsentierten. Trotzdem hatte ich das ungute Gefühl, dass ich möglicherweise keinen Tiger sehen würde. Keinen einzigen. Aber jetzt kamen uns zwei andere Jeeps entgegen, in denen selige Passagiere saßen: Am Wasserloch! Drei Tiger! Mutter mit zwei Jungen! Beim Spielen!

Pro Wurf bringt ein Tigerweibchen meist zwei bis fünf Junge zur Welt.

Die Ranger der Jeeps mussten meinem Ranger dann erst einmal erzählen, wie toll die Begegnung gewesen sei. Ihre Jeeps standen links und rechts von uns, und ich durfte Videos mit der Spielgruppe anschauen. Unter anderem von einem fünfjährigen Jungen, der mit seinem Material wahrscheinlich demnächst zu den Filmfestspielen in Cannes anreisen wird. Als die Ranger fertig getratscht hatten, fuhren wir zum Wasserloch mit den drei Tigern. Die natürlich längst weg waren.

Auf Tigerpirsch mit dem Besten

Für meine letzte Safari vor dem Heimflug wurde ich Jadvendra zugeteilt. „Jadvendra Singh? DEM Jadvendra Singh?“ Das Team an der Rezeption erstarrte kurz vor Ehrfurcht. Weil: „Das ist eine Legende, Sir! Sie müssen sich keine Sorgen machen – niemand kennt Ranthambore besser als er! Heute ist Ihr Glückstag!“ Draußen saß ein lachender Mann am Steuer des Jeeps. Obwohl es noch dunkel war, trug er eine Sonnenbrille, in ihren Gläsern spiegelten sich die Scheinwerfer der anderen Autos. „Ich bringe dich schnurstracks zu #24!“, rief er mir entgegen. Nummer 24, das sei jener Tiger, den man gezeigt bekomme, wenn man nach "Tiger Ranthambore Nationalpark" googele: der größte, der stolzeste, der mächtigste Tiger im Park, der König der Tiger sozusagen. Und wir würden ihn treffen! Heute! Und dann saß ich im Jeep und es ging los, Richtung Glückstag.

Dass ich am Ende der Indienreise dann tatsächlich einen Tiger gesehen habe, verdankte ich nicht Jadvendra Singh – der hatte mich nach unserer Safari sehr kleinlaut am Hotel abgesetzt. Meinen Tiger präsentierte mir die Airline. Auf dem Rückflug lief an Bord nämlich "Life of Pi". Das ist dieser Film über den schiffbrüchigen Jungen, der sich das Rettungsboot mit einem teilt. Sind schon wunderschöne Tiere, die Tiger.