Die Lofoten zählen im Winter zu den weltweit besten Orten für das Kaltwassersurfen. Wer glaubt, das sei nur etwas für Extremsportler, der irrt gewaltig.
Es ist Vormittag und trotzdem dunkel. In Unstad, auf dem 68. Breitengrad nördlich des Polarkreises gelegen, geht die Sonne im November nur kurz auf, ehe sie wieder am Horizont verschwindet. Es pfeift ein eisiger Wintersturm, doch selbst der hält Timothy und Sam nicht davon ab, ihrer größten Leidenschaft zu frönen: dem Surfen.
So richtig passen die beiden Amerikaner aus Honolulu nicht in die winterliche Landschaft, mit ihren schwarzen Ganzkörper-Neoprenanzügen und Surfbrettern unter dem Arm. Sie stapfen durch knietiefen Schnee – einen halben Meter hat es über Nacht geschneit. „Es ist mir noch nie passiert, dass ich mein Auto ausschaufeln muss, bevor ich damit zum Strand fahre“, grinst der 25-jährige Sam, an dessen Bart kleine Eiszäpfchen hin- und herschaukeln.
Unstad auf den Lofoten ist der Hotspot für Arctic Surfing. Von Grönland aus können sich die Wellen ungehindert aufbauen, bis sie direkt vor der Küste auf eine Untiefe treffen und sich dann noch stärker auftürmen. Profis finden, dass es der kleine norwegische Ort locker mit Surferparadiesen wie dem französischen Biarritz oder Nazaré in Portugal aufnehmen kann. Der Unterschied: Es ist kälter hier. Die durchschnittliche Wassertemperatur beträgt im Winter drei Grad Celsius und nur 15 Grad im Sommer. Gäbe es nicht den Golf- beziehungsweise Nordatlantikstrom, würde das Meer zufrieren. So aber kommen Surfer das ganze Jahr über.
Erfunden haben das Arctic Surfen in Norwegen zwei Einheimische: Thor Frantzen und Hans Egil Krane. Als Jungen arbeiteten die beiden 1963 auf einem Frachtschiff und reisten so um die Welt. Am Bondi Beach in Australien sahen sie zum ersten Mal Menschen, die auf den Wellen ritten. Mit Sydneys Wellen könnte es Unstad allemal aufnehmen, dachten sie sofort. Kaum waren Thor und Hans Egil wieder zu Hause, wollten sie das Surfen ausprobieren.
Das Equipment gab es damals allerdings nicht zu kaufen. Also bauten die Freunde ihre Bretter einfach selbst. Ein glücklicher Zufall, dass das Album „Surfin Safari“ von den Beach Boys ein Jahr zuvor erschienen war – das Surfboard auf dem Cover diente ihnen als Inspiration. Mangels Neoprenanzügen unternahmen sie ihre Ausflüge ins kalte Wasser anfangs in Badehosen, später in mit Öl imprägnierten Pullovern, Regenjacken und -hosen, die sie mit einem Klebeband an Ärmeln und Beinen wasserdicht zu machen versuchten. Eine Badekappe und Wollmütze schützten den Kopf vor der Eiseskälte, Spülhandschuhe die Hände.
„Die Jungs wollten die Strände und Wellen für sich haben“, erinnert sich der gebürtige Unstader Alf an die Anfänge des Arctic Surfens auf den Lofoten. „Deshalb hieß es immer: ‚Sag bloß niemandem, dass man hier surfen kann.‘“ Der heute 80-Jährige konnte sich damals sowieso nicht vorstellen, dass irgendjemand sonst so verrückt sein würde wie Thor und Hans Egil. Tatsächlich blieb Unstad lange ein Geheimtipp. Doch mittlerweile reisen rund 10.000 Surfbegeisterte jedes Jahr aus allen Teilen der Welt an, um auf den arktischen Wellen zu reiten. Gemessen an der Einwohnerzahl eine beachtliche Menge, denn in den letzten Jahrzehnten sind fast alle Unstader auf das Festland gezogen. Einfache Hütten und Apartments, zum Beispiel im Unstad Arctic Surf Camp, dienen als Unterkünfte. „Zum Glück gibt es die Surfer“, meint Alf, „sonst wäre mein Geburtsort heute tot.“
Von einst 300 Einwohnern sind nur noch eine Handvoll übrig. Einer von ihnen ist Kristian Breivik. Er gab 2010 sein Geschäft in Stavanger auf, wo sich Norwegens Surfszene – vom klassischen Windsurfing bis zum Wellenreiten und Kitesurfen – bereits länger etabliert hat. Den ausgedienten Tante-Emma-Laden in Unstad wandelte er zusammen mit seiner Frau in einen gut sortierten Surfshop um. Besonders stolz ist er auf das Plakat vor seinem Laden: „Northernmost surfshop in the world. Located at 68,16 degrees north“.
„Viele Leute fragten mich damals: ‚Bist du verrückt geworden? Einen Surfshop nördlich des Polarkreises zu eröffnen?‘“, erzählt Breivik. Er lehnt an einem Regal mit Surfbrettern, die er aus Südafrika geordert hat. Ein paar Jahre hat er dort selbst gelebt, bevor er nach Norwegen zurückkehrte. Draußen bläst der Schneesturm. „Mir macht es Spaß, etwas Verrücktes zu wagen.“ Und außerdem sei es gar nicht so verrückt, denn mit Hilfe des Internets sowie mit spektakulären Filmen und Fotos über diesen ungewöhnlichen Ort wachse das Interesse der internationalen Surfszene an Unstad stetig. „Schon im Frühjahr hatten wir doppelt so viele Gäste wie letztes Jahr. Die Zahlen steigen – für unsere Verhältnisse – rasant.“
Durch die sensationellen Fotos vom Arctic Surfen, die ihr Landsmann Chris Burkard geschossen hat, sind auch Sam und Timothy aufmerksam geworden. „Natürlich gibt es auf Hawaii coole Buchten“, erzählt Timothy. „Aber in Waikiki zum Beispiel paddelt man mit zig anderen Surfern die gleiche Welle an und muss aufpassen, dass es zu keiner Karambolage kommt.“ Und Sam ergänzt: „Wir wollten endlich einmal surfen, wo der normale Surfer nicht surft.“ Der Schnee knirscht unter ihren Neoprenschuhen, als sie sich auf den Weg ins Wasser machen. Nein, Mainstream ist das hier nicht. Und nein, anstellen für die perfekte Welle muss man sich hier auch nicht.
Die beiden werfen sich ins eisige Wasser und paddeln mit den Armen gegen meterhohe Wellen an, was das Zeug hält. Wind und Wasser peitschen gegen ihre Gesichter. Bis zu drei Stunden kann man im eiskalten Meer bleiben – die Topqualität der Winterneoprenanzüge macht’s möglich. „Gefährlicher als Erfrierungen sind die starken Strömungen“, warnt Breivik. „Wir beschreiben unseren Gästen genau, wo sie ins Wasser gehen und wo sie wieder rauskommen sollen.“ Wer das nicht beherzigt, setzt sein Leben aufs Spiel.
So extrem sind die Bedingungen nicht immer. Im Juli und August, wenn die Wassertemperatur auf maximal 15 Grad Celsius steigt und die Wellen gemäßigt sind, kommen inzwischen auch Familien mit Kindern und sogar Anfänger, die noch nie auf einem Surfboard gestanden sind. „Sie genießen besonders, dass unsere Strände und das Meer nicht so überfüllt sind wie in typischen Surfrevieren“, sagt Breivik. „Und natürlich genießen sie die Sonne. Denn wenn sie scheint, scheint sie rund um die Uhr.“ In der Mitternachtssonne zu surfen, sei etwas Einmaliges.
Während die Touristen im Sommer die nicht enden wollenden Tage genießen, sind es bei Sam und Timothy die langen Nächte, die sie faszinieren. Ausgerüstet mit Stirnlampen machen sie sich erneut auf den Weg zur Bucht, dieses Mal kurz vor Mitternacht. Am pechschwarzen Firmament zucken grüne Lichter, es ist ein flackernder Tanz aus Bögen und Bändern – das Polarlicht verwandelt den Himmel in eine überirdisch schöne Lichtershow.
Verglichen mit Hawaii habe Unstad – neben der spektakulären Natur – einen weiteren Vorteil, meint Timothy: „Man braucht keine Angst vor Haien zu haben. Hier gibt es nur Orcas.“ Die tragen zwar den Beinamen „Killerwal“, aber Menschen stehen nicht auf ihrer Speisekarte. „Bei einem Surfwettbewerb 2017 vor Unstad sah es fast so aus, als ob ein Orca einen Surfer attackieren wollte“, erinnert sich Sam an ein Video, das im Internet um die Welt ging. „Doch Experten waren sich einig: Der Orca ist dem Surfer nur versehentlich so nahe gekommen.“
Für Kristian Breivik, den Eigentümer vom Lofoten Surf Center, ist Unstad das beste Surfrevier in ganz Nordeuropa. Nur einen ganz banalen Wunsch für die Zukunft hat er: bessere und mehr öffentliche Toiletten. Denn die Infrastruktur wachse nicht so schnell wie das Interesse der Menschen, die hierherkommen wollen. „Aber keine Sorge“, meint Breivik. „Die Gemeinde arbeitet daran.“