„Ein Geniestreich für das Land“
Schroffe Felsen, Birkenwälder und grasgrüne Schafwiesen; an der Küste weiße Sandstrände, die aufgewühlte Nordsee und – keine Seltenheit – vorbeiziehende Wale. Die Inselgruppe der Vesteraalen rund 300 Kilometer nördlich des Polarkreises ist ein landschaftliches Paradies, wie so vieles in Norwegen. Arne und Mathilda sind dem Tipp ihres Professors gefolgt und von Oslo auf die Hauptinsel Andöya gereist. „Selbst wir Norweger kennen oft nur die berühmten Nachbarn der Vesteraalen, die Lofoten“, sagt Mathilda. Von besonderem Interesse ist für die beiden Architekturstudenten jedoch nicht die Natur, sondern ein Rastplatz im Schatten der Gesteinsformation Bukkekjerka.
„Hier befand sich in vorchristlicher Zeit eine heilige Stätte, wo die Ureinwohner Gaben auf einem Altar geopfert haben“, erklärt Arne. Heute schmücken ein Servicegebäude mit öffentlichen Toiletten, Picknick- und Parkplätze sowie eine Brücke, die zu mehreren Leuchttürmen führt, den historischen Ort. Ja, schmücken: Die topmoderne Architektur aus Beton und Spiegelglas stammt von dem norwegischen Architekturbüro Morfeus Arkitekter und befindet sich an einer der 18 sogenannten Norwegischen Landschaftsrouten.
Die Idee der „Nasjonale turistveger“ entstand in den 1990er Jahren. Wie könnte man die grandiose Landschaft besser inszenieren und Touristen auch in entlegenere Gegenden Norwegens locken? Mit dieser Frage forderte das Parlament das ganze Land auf, Vorschläge einzureichen. 18 außergewöhnlich schöne Strecken wurden schließlich als nationale Landschaftsrouten auserkoren, mit einer Länge von über 2.000 Kilometern. Die verantwortliche Staatliche Straßenverwaltung veranschlagte rund 100 Millionen Euro für das gesamte Projekt und beauftragte junge Architekten, Landschaftsarchitekten, Designer und Künstler, entlang dieser landschaftlich reizvollen Straßen Rastplätze, zu entwerfen. Fast alle kommen aus Norwegen. Ausnahmen bilden lediglich der weltberühmte Schweizer Architekt Peter Zumthor, die im Jahr 2010 verstorbene französisch-US-amerikanische Künstlerin Louise Bourgeois und der amerikanische Installationskünstler Mark Dion.
Messlatte für sie alle waren und sind innovative, kreative Lösungen, die eine perfekte Symbiose zwischen Natur und Architektur herstellen. Und tatsächlich sind die Ergebnisse so extravagant, dass sie das Zeug zum Touristenmagneten haben. „Dass man etwas so Profanes wie einen Rastplatz derart gut in Szene setzt, ist einfach genial“, schwärmt Studentin Mathilda über Bukkekjerka.
Fotograf Ken Schluchtmann kann dem nur zustimmen: „Mit den Landschaftsrouten ist Norwegen ein Geniestreich für das ganze Land geglückt“, meint der 49-Jährige. „Norwegens Reichtum besteht aus Öl, Fisch und was noch? Genau: den Landschaftsrouten. Mit ihnen hat das Land flächendeckend eine Kombination aus Natur und Design geschaffen, die weltweit einzigartig ist.“ Der Berliner kennt die „Nasjonale Turistveger“ wie seine Westentasche. Insgesamt acht Jahre lang befuhr er die Routen, legte 25.000 Kilometer zurück und schoss mehr als 10.000 Fotos. „Kein anderes Land hat mein Leben so beeinflusst wie Norwegen“, sagt der Vielgereiste.
1997 unternimmt Schluchtmann – damals noch Jurastudent – seinen ersten Roadtrip durch Norwegen, dessen Natur, Farbgewalt, Weite und Einsamkeit ihn schlicht überwältigen. Danach schmeißt er sein Studium hin und absolviert eine Ausbildung zum Fotodesigner: „Ich wollte nicht als Jurist für den Rest meines Lebens Akten von rechts nach links schieben“, erklärt Schluchtmann. „Ich wollte meine Leidenschaft, Landschaften und Architektur zu fotografieren, zum Beruf machen.“ Der Erfolg rechtfertigt diese Entscheidung: 2012 und 2013 wird er beim World Architecture Festival in Singapur als Architekturfotograf des Jahres ausgezeichnet.
Das Siegerfoto 2013 hat Schluchtmann in Norwegen geschossen, an seinem persönlichen Lieblingsort: der Trollstigen, zu Deutsch „Trollleiter“. Auf der Bergstraße, die sich in elf Haarnadelkurven vom Tal Isterdalen zur Passhöhe hinaufschlängelt, rollt schon seit 1936 der Verkehr. Während der Sommerperiode von Mitte Mai bis Ende September kommen jedes Jahr rund 500.000 Gäste aus aller Welt, um einen Blick auf die Serpentinen, die dramatische Bergkulisse und nun auch auf das Architekturensemble von Reiulf Ramstad Architects zu werfen.
„Besucherzentrum, Restaurant, die kaskadenartigen Wasserbecken, Stege und Panoramaplattformen sind meiner Meinung nach visionär wie kein anderer Entwurf an den Landschaftsrouten“, findet der Fotograf. Schon lange bevor die Idee der Norwegischen Landschaftsrouten entstand, zählte der Trollstigen zu den Touristenmagneten Norwegens. Jetzt kommen noch mehr Gäste aus aller Welt, essen im schicken Restaurant einen Trollburger, machen Selfies mit Aussicht und fahren dann weiter: mit dem Auto oder mit dem Bus zurück zu ihrem Kreuzfahrtschiff nach Geiranger. Aber geht der Plan auf, auch entlegenere Orte mit den „Turistveger“ zu erschließen?
Die Varanger-Route, die in den äußersten Nordosten Norwegens an den Rand der Zivilisation führt, ist ein solcher Versuch. Fotograf Ken Schluchtmann gelangt durch den Eismeertunnel, der unter der Barentsee hindurchführt, zur Insel Vardoya. Sein Ziel: das Steilneset-Mahnmal, ein Gemeinschaftsprojekt des renommierten Architekten Peter Zumthor und der amerikanischen Bildhauerin Louise Bourgeois. „Es erinnert an die Hexenverbrennungen im 17. Jahrhundert“, erzählt Schluchtmann. „In Vardo sind ungewöhnlich viele Menschen auf dem Scheiterhaufen gelandet.“ In puncto Hexenverfolgung belegt der kleine Fischerort einen traurigen Spitzenplatz in Europa.
Schluchtmann spaziert durch den begehbaren, dem Sturm trotzenden Stoffschlauch, den Architekt Peter Zumthor in einem Holzgestell aufgehängt hat: „Das hier lässt niemanden kalt“, meint der Fotograf. „Jeder einzelne Fall ist real und eine menschliche Tragödie.“ Für schummriges Licht im Inneren sorgen 91 Luken und 91 schwach glimmende Glühbirnen, die 91 Gerichtsprotokolle beleuchten. Alles Todesurteile. Zum Beispiel das von Ellen Gundersdatter, die am 27. Februar 1663 verbrannt wurde, weil sie bei der sogenannten Wasserprobe im eiskalten Polarwasser wie ein Stock auf der Oberfläche trieb – damals ein sicheres Indiz dafür, dass es sich um eine Hexe handeln musste. Ja, sie besitze Zauberkräfte und sei vom Teufel besessen, gestand Gundersdatter unter Folter und starb in den Flammen. Weitere 76 Frauen und 14 Männer teilten als Hexen und Hexer das Schicksal der jungen Frau.
Neben Zumthors Bauwerk befindet sich ein von Louise Bourgeois gestalteter Kubus. Aus einem eisernen Stuhl lodert eine ewige Gasflamme, darüber hängen im Kreis sieben ovale Spiegel. Jeder, der um den Stuhl herumgeht, hat das Gefühl, selbst in Flammen zu stehen. „Eine extrem gute Umsetzung des Themas, allerdings sehr städtisch gedacht“, findet Schluchtmann. „Ich habe mit einheimischen Fischern gesprochen, die die Ästhetik nicht verstehen und nur den Kopf schütteln: ‚Wir brauchen hier keine Kunstwerke, die Millionen Kronen kosten‘, sagte einer von ihnen. Und ein anderer: ‚Wie wäre es mit einer neuen Straße oder einem neuen Pier? Warum verschwenden sie unser Geld mit so etwas?‘“
Zwiespältig ist die Meinung im Land zum Beispiel auch zu der goldenen Toilette an der Norwegischen Landschaftsroute Senja. Auf dem Rastplatz schimmern die vergoldeten Aluminium-Schindeln der Serviceeinrichtung in der Sonne. „Die Welt muss uns doch für verrückt halten“, sagt Anna, die aus der Region Troms stammt. „Ganz im Gegenteil“, finden die beiden Architekturstudenten Arne und Mathilda. „Welches Land hat es geschafft, dass in Reiseführern eine öffentliche Toilette als Sehenswürdigkeit angepriesen wird?“ In einer Pressemitteilung verteidigt auch Per Ritzler, Medienbeauftragter bei der Staatlichen Straßenbauverwaltung, das Projekt: „Durch mehr Reisende auf den Landschaftsrouten soll Leben in abgelegene Landstriche kommen.“
Ob das flächendeckend gelingt, werden die kommenden Jahre zeigen. Die Landschaftsrouten sollen 2023 abgeschlossen sein. Ken Schluchtmann wird wieder nach Norwegen reisen, um Projekte zu fotografieren, die sich jetzt noch in Planung oder Bau befinden. Und Mathilda und Arne kommen noch einmal nach Bukkekjerka, bringen dann Familie und Freunde mit. Denn auf dem außergewöhnlichen Rastplatz gibt es nicht nur eine Toilette mit Aussicht und einen Spot zum Walebeobachten, sondern auch einen Traualtar. Dort wollen die beiden heiraten, unter freiem Himmel, am liebsten bei Mitternachtssonne.
Gigi Buchholz - 2. November 2019 Kommentar melden