Wer schon immer mal einen Dinosaurier ausgraben wollte, ist in den kanadischen Badlands genau richtig. Nirgends auf der Welt gibt es mehr Fossilien der Urzeitgiganten.
Wie im Schlaraffenland muss sich der Nodosaurier gefühlt haben, als er Wälder mit Riesenfarnen und Palmen durchstreifte. In Alberta herrschte damals – in der mittleren Kreidezeit – ein feuchtwarmes Klima, das für eine Vegetation wie in den Tropen sorgte. Mit seinem Plattenpanzer und den dolchartigen Schulterstacheln war der rund fünf Meter lange und über eine Tonne schwere Pflanzenfresser bestens gegen Feinde gewappnet. Geholfen hat ihm diese wehrhafte Ausrüstung nicht. Wissenschaftler vermuten, dass ihn ein tosender Fluss in den Tod riss und schließlich ins Meer spülte.
110 Millionen Jahre später ist das Meer aus Alberta längst verschwunden, ebenso die üppige Vegetation. Dort, wo der Nodosaurier starb, schürfen Arbeiter der Suncor Energy Millenium Mine heute Erdöl, das sie im Tagebau aus dem unter dem Waldboden verborgenen Ölsand gewinnen. Als der Baggerfahrer Shawn Funk am 21. März 2011 seine Schicht beginnt, ahnt er nicht, dass dies ein ganz besonderer Montag werden soll. Während er mit seiner riesigen Schaufel hantiert, bemerkt er plötzlich, dass etwas Merkwürdiges aus dem Boden vor ihm ragt: viel härter als das umgebende Gestein, anders gefärbt und mit seltsamen Mustern. Ein Fossil?
„Zufällig hatte Shawn eine Woche zuvor das Royal Tyrrell Museum of Palaeontology besucht und war sensibilisiert, was Fossilien angeht“, erzählt Elaine Secord, PR-Chefin des Museums, das wegen seiner Dinosaurierfossilien weltberühmt ist. Ein glücklicher Zufall! Denn statt einfach weiterzubaggern, informiert Funk seinen Vorarbeiter und der wiederum die Geologen der Mine. Spezialisten des Museums in Drumheller werden herbeigerufen. „Shawns Fund ist so etwas wie ein Sechser im Lotto“, sagt Secord. „Es handelt sich um einen Nodosaurier. Dieses Exemplar ist der am besten erhaltene gepanzerte Dinosaurier, der jemals ausgegraben wurde. Und er ist mindestens 35 Millionen Jahre älter als alle anderen bislang in der Region gefundenen Fossilien.“
Die Region – das sind die sogenannten Badlands in der Provinz Alberta, rund 200 Kilometer östlich von der Olympiastadt Calgary. Erodierte Böden, Canyons und Hoodoos, turmartige Felsformationen aus Sedimentgesteinen, prägen das „schlechte Land“, das seinen Namen der Tatsache verdankt, schlicht nicht kultivierbar zu sein. Daher ist die Gegend kaum besiedelt – für Paläontologen, Wissenschaftler, die sich mit Tieren und Pflanzen aus der Urzeit beschäftigen, sind die Badlands dagegen eine wahre Schatzkammer. Kein anderes Gebiet der Erde kann auf vergleichbarem Raum so viele und vielfältige Dinosaurierfossilien vorweisen.
Einzige Lebensader der Badlands ist der Red Deer River, der mehrere Schutzgebiete durchfließt. Darunter befinden sich der Dinosaur Provincial Park, der wegen seiner landschaftlichen Schönheit und wegen seines Fossilienreichtums seit 1979 zum UNESCO-Welterbe zählt; und der Dry Island Buffalo Jump Provincial Park. Die Prärie-Indianer jagten hier Jahrtausende lang Büffel, indem sie die Tiere zum Klippenrand trieben, wo sie voller Panik in den Tod stürzten. Es sind nicht die Büffelknochen, die Wissenschaftler heute zu Begeisterungsstürmen hinreißen. Barnum Brown, Entdecker des Tyrannosaurus Rex, stößt hier 1910 auf den nach der Provinz Alberta benannten Albertosaurus, einen etwas kleineren Verwandten des T-Rex.
Die Fundstelle entpuppt sich als gigantisches Knochenlager, doch das Team um Brown birgt mangels Manpower und Zeit nur einen Bruchteil der Fossilien. Erst 1997 entdeckt der kanadische Professor Philip Currie, Paläontologe an der Universität Edmonton und Mitbegründer des Royal Tyrrell Museums in Drumheller, das urzeitliche Grab wieder. In jahrelanger Sisyphusarbeit setzen Experten die Fossilien zu riesigen Puzzles zusammen – die Albertosaurier zählen heute zu den Top-Exponaten des Museums.
Unbestrittenes Highlight in Drumheller ist jedoch Shawn Funks Sensationsfund. Als Präparator Mark Mitchell die ersten Gesteinsreste abkratzt, merkt er sofort, dass dieses Urtier alles in den Schatten stellt, was er jemals bearbeitet hat. Normalerweise versteinern nur Knochen und Zähne von Dinosauriern, weil sich der Rest zu schnell zersetzt. Doch den Nodosaurier haben Meeressedimente wie ein Sarkophag umhüllt und seinen Körper mumifiziert. Die stacheligen Panzerschuppen sind ebenso erhalten wie die Haut und sogar einige Innereien. „Der könnte noch vor ein paar Wochen herumgelaufen sein“, sagt Mitchells Kollege Jakob Vinther, ein Paläobiologe von der Universität Bristol, erstaunt in einem Interview mit National Geographic. „So etwas habe ich noch nie gesehen.“ Als „Borealopelta markmitchelli“ wird der Nodosaurier 2017 der Öffentlichkeit präsentiert. Namenspatron ist sein Präparator Mark Mitchell, der mehr als 7000 Stunden investiert hat, um die Mumie aus ihrem steinernen Grab zu befreien.
Auch Wendy Sloboda wird die Ehre zuteil, Namensgeberin für einen Dinosaurier zu sein. Oder ist es eher eine Ehre für den „Wendyceratops“? Schließlich gilt die in Alberta geborene Kanadierin weltweit als Legende unter den Fossilienjägern. „Jedes Kind ist irgendwann mal verrückt nach Dinosauriern“, sagt die 50-Jährige mit der Rastamähne und Armen voller Tattoos. „Bei mir hat diese Phase nie aufgehört.“
Nachdem sie als Teenagerin Eierschalen von Entenschnabelsauriern aufgestöbert hatte und ihr Hinweis zum Fund mehrerer Nester inklusive Eiern mit fossilen Embryos geführt hatte, machte sie ihr Hobby zum Beruf. Sie arbeitete im Royal Tyrrell Museum und später als selbstständige Präparatorin. Besonders gefragt ist sie jedoch als „Jägerin“, nicht nur in Kanada, sondern auch in Argentinien, der Mongolei, Frankreich und Grönland.
Aber was macht einen guten Fossilienjäger aus? Wie unterscheidet er Fossilien von ganz normalen Steinen? Mittels Spucketest zum Beispiel: einen Finger mit Spucke befeuchten und ihn dann eine Minute lang auf das Fundstück drücken. Bleibt der Finger kleben – Volltreffer! Denn selbst fossilierte Knochen haben noch Poren und die saugen sich am Finger fest. Wendy grinst. Solche Tricks braucht sie nicht. Sie hat so etwas wie den sechsten Sinn: sucht, wo andere vorbeigehen; sieht, was andere übersehen.
2010 verhilft ihr diese besondere Gabe, eine bis dato unbekannte Dinosaurier-Spezies zu entdecken. Bei einem ihrer Streifzüge bemerkt sie, dass ein Stück eines gehörnten Schädels aus dem Boden ragt. Die folgenden Ausgrabungen befördern Knochen von einem ca. 78 Millionen alten Dinosaurier mit einem außergewöhnlichen Nackenschild zu Tage, der als „Wendyceratops“ seinen Platz in der Wissenschaft findet.
Doch selbst Laien stoßen in den Badlands immer wieder auf Fossilien, die es wert sind, im Museum ausgestellt zu werden. „Wir sind jedem dankbar, der sich auf die Suche nach Fossilien macht“, sagt Elaine Secord. „Unsere Paläontologen können unmöglich die ganze Region allein durchforsten.“ Immer wieder finden Urlauber, Schulkinder oder Studenten Überreste aus der Urzeit: den Zahn eines T-Rex, Eier oder Knochen. Der Fundort ist genauso wichtig wie das Fossil selbst, deshalb sollen Hobbyjäger die GPS-Daten notieren, ein Foto machen und nicht weiter graben. „Nur lose Fossilien sollen ins Museum gebracht werden, damit unsere Spezialisten einen Blick darauf werfen können.“
Fossilien einfach einstecken und mitnehmen, ist strafbar. Alberta hat strenge Gesetze, um seinen reichen Schatz an Fossilien zu schützen. „Nur wer in Alberta lebt und legal nach Fossilien sucht, kann ein mögliches Fundstück behalten“, erklärt Secord. „Man darf es aber nicht verkaufen oder aus der Provinz ausführen.“ Bei Zuwiderhandlung drohen eine Geldstrafe von bis zu 50.000 kanadische Dollar oder ein Jahr Haft. Da ist es doch besser, den Fund zu melden und als Namensgeber für einen Dinosaurier unsterblich zu werden, oder?