Von universellem Wert für die Menschheit
Aylin und Can sitzen auf einer Parkbank auf dem Sultanahmet-Platz, der sich zwischen der Hagia Sophia und der Blauen Moschee erstreckt. Für die beiden Kunsthistoriker aus Istanbul ist es der schönste Platz in der ganzen Stadt. „Die Architektur ist immer wieder atemberaubend“, sagt Aylin.
Sie treffen Hassan, der aus der Schwarzmeerstadt Trabzon angereist ist, um seine ehemaligen Kommilitonen zu besuchen. Mit einem dampfenden Çay aus einer Thermoskanne, den Can in tulpenförmige Gläser kippt und den beiden reicht, begießen die Freunde ihr Wiedersehen. Auch heute diskutieren sie wieder kontrovers, was damals passierte.
Damals, das war der 24. Juli 2020. „Ich erinnere mich an das Datum so genau, weil es einen Wendepunkt in der Geschichte der Hagia Sophia markiert“, sagt Aylin. „Wieder einmal.“ 86 Jahre, nachdem Mustafa Kemal Atatürk die vielleicht berühmteste Sehenswürdigkeit Istanbuls zum Museum umfunktioniert hatte, entschied das Oberste Verwaltungsgericht der Türkei, dass die Hagia Sophia kein Museum mehr sein sollte, sondern wieder eine Moschee.
Weil im Gebäude nur Platz für geladene Gäste war, versammelten sich an jenem Freitag tausende Gläubige trotz Corona-Pandemie auf dem Sultanahmet-Platz, um beim ersten Freitagsgebet seit über acht Jahrzehnten in der Hagia Sophia wenigstens von fern dabei zu sein.
Hassan jubelt bis heute über die Entscheidung des Gerichts. „Die griechische Regierung, die Russisch-Orthodoxe Kirche, der Papst – sie alle kritisieren uns Türken deswegen“, sagt er. „Dabei ist es unser Recht, über unser kulturelles und religiöses Erbe selbst zu entscheiden.“ In diesem Punkt sind sich Aylin und Can mit Hassan einig. Selbstbestimmung ja, aber ansonsten teilen sie die Euphorie ihres Freundes überhaupt nicht. Bis zum Schluss hatten die beiden gehofft, dass das Gericht den Status der Hagia Sophia nicht ändern würde. „Sie ist der perfekte Beweis dafür, dass Islam und Christentum friedlich nebeneinander existieren können“, findet Aylin. „Genau diese Toleranz der Welt zu zeigen – dafür gibt es doch keinen besseren Ort als ein Museum, oder?“
„Für mich als Muslim bedeutet es sehr viel, das Freitagsgebet in der Ayasofya praktizieren zu können …“, kontert Hassan. Aylin schüttelt verständnislos den Kopf. „Warum müssen wir Muslime ausgerechnet in der Hagia Sophia beten, wo es über 3000 Moscheen in Istanbul gibt?“ „Darum ging es ihm doch gar nicht“, mischt sich nun Can in die Diskussion ein und meint mit „ihm“ Präsident Recep Tayyip Erdogan. „Die Umwandlung war eine reine Machtdemonstration. Wenn es ihm schon nicht gelingt, uns alle zu gläubigen Muslimen zu bekehren, dann widmet er eben so ein berühmtes Bauwerk um und setzt ein Zeichen.“
Die Kontroverse der Freunde spiegelt die Meinung der Türken über die Re-Islamisierung der Hagia Sophia wider. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts KONDA aus dem Jahr 2019 ist die Bevölkerung gespalten: 44 Prozent der Befragten unterstützen die Umwandlung in eine Moschee, 49 Prozent sprechen sich dafür aus, dass sie weiterhin ein Museum bleiben soll. Eine kleine Minderheit ist unentschlossen.
Ein Blick in die Geschichte
Aber warum bewegt die Re-Islamisierung der Hagia Sophia die Gemüter in der Türkei und rund um den Globus überhaupt so sehr? Um das zu verstehen, muss man weit zurückblicken, denn die Geschichte der heutigen Hagia Sophia beginnt im 6. Jahrhundert nach Christus. Der sogenannte Nika-Aufstand im Jahr 532 gegen Justinian I., den Kaiser des christlichen Oströmischen Reiches, fordert Tausende Todesopfer und richtet schlimme Zerstörungen in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul, an. Das Stadtzentrum sowie der Vorgängerbau der Hagia Sophia brennen dabei fast vollständig ab. Nach der Niederschlagung des Aufstandes lässt der Herrscher in der sagenhaft kurzen Bauzeit von nur fünf Jahren an derselben Stelle, wo die Basilika gestanden hat, eine monumentale Kirche bauen. Sie soll die Macht und den Glanz seines Reiches repräsentieren. Fast ein Jahrtausend bleibt die Hagia Sophia das spirituelle Zentrum der orthodoxen Christenheit.
Als Sultan Mehmed II. Konstantinopel 1453 mit seinen Truppen erobert, reitet er zur Hagia Sophia und bestimmt, dass die Kirche in eine Moschee umfunktioniert wird. Zum Glück für die Nachwelt erkennt er den unschätzbaren Wert des Gebäudes und weist Architekten und Arbeiter an, die christlichen Elemente, die das Innere der Kirche zieren, nicht zu zerstören. Er lässt lediglich Kreuze und Glocken entfernen, die Fresken und Mosaike, die vom Leben Jesu erzählen, entweder mit einer Kalkschicht übermalen oder mit Holz bzw. Tüchern verdecken, weil die Darstellung von Menschen und Tieren im Islam grundsätzlich verboten ist. Zu den architektonischen Veränderungen zählen die vier Minarette, die sukzessive angebaut werden, der im Altarraum installierte Mihrab (Gebetsnische, die Richtung Mekka zeigt) und der Minbar – eine Kanzel, von der der Imam die Predigt während des Freitagsgebets hält.
Fast ein halbes Jahrtausend später, im Jahr 1935, beginnt für die Hagia Sophia unter der Regierung von Mustafa Kemal Atatürk ein ganz neues Kapitel, nämlich das als Museum. Damit setzt der Staatsgründer der modernen Türkei eine seiner zentralen Reformen durch: die Säkularisierung der Gesellschaft und des Staates. Er will den Einfluss der Religion auf die Politik und das tägliche Leben radikal reduzieren und die Vielfalt der türkischen Geschichte betonen, anstatt sich auf die osmanisch-islamische Vergangenheit zu fokussieren. Welches Gebäude eignet sich da besser als die Hagia Sophia, die das byzantinische UND osmanische Erbe symbolisiert? Atatürk transformiert sie von einem rein religiösen Gebäude in ein Monument von universellem Wert, einen Ort der Bildung und Wissenschaft nach westlichem Vorbild. Die Einnahmen aus dem Tourismus sind ein willkommener lukrativer Nebenaspekt.
Umwandlung in ein Museum im Schnelldurchgang
Da Atatürk autoritär regiert, kann er seine Reformen schnell und gegen wenig Widerstand durchsetzen. Nur zehn Tage liegen 1934 zwischen seinem Antrag auf Umwandlung und dem positiven Beschluss des Ministerrats. Bereits im darauffolgenden Jahr wird die Hagia Sophia als Museum eröffnet. Es gibt keine islamischen Kleidervorschriften, keine getrennten Eingänge und Räume für Frauen und Männer mehr, dafür aber Eintrittsgelder. „Die damalige Entscheidung, die Hagia Sophia in ein Museum umzuwandeln, war alles andere als demokratisch“, gibt Aylin zu. „Aber sie war ein großes Glück, denn seit diesem Zeitpunkt kümmerte sich ein wissenschaftlicher Rat, bestehend aus Archäologen, Kunsthistorikern und Restauratoren, darum, die Hagia Sophia zu pflegen und zu erhalten.“
Experten aus der ganzen Welt arbeiten zusammen, sichern die Hagia Sophia vor Umwelteinflüssen oder Erdbeben und legen zum Beispiel die byzantinischen Mosaike, die während der osmanischen Zeit übermalt oder bedeckt wurden, wieder frei. Zeynep Ahunbay ist Architekturhistorikerin und Mitglied in diesem Wissenschaftsrat. „Die Hagia Sophia ist von universellem Wert für die gesamte Menschheit“, sagt die Expertin der SRF Tagesschau. Genau das ist der Grund, warum die UNESCO das Gebäude 1985 auf die Welterbeliste setzt.
„Der antike Bau kann nicht auf die Nutzung als Sakralobjekt für eine spezielle Glaubensgemeinschaft reduziert werden“, kritisiert Ahunbay Erdogans Vorhaben. Doch der sieht das anders. Schon seit Jahren verfolgen er und seine AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) die Idee, die Hagia Sophia wieder als Moschee zu nutzen. Vor allem in nationalistisch-konservativen Kreisen ist die Re-Islamisierung der Hagia Sophia ein lang gehegter Traum.
"Sieg der muslimischen Welt"
Am 10. Juli 2020 urteilt der Oberste Gerichtshof der Türkei, dass die Kabinettsentscheidung aus dem Jahr 1934, mit der die Hagia Sophia von einer Moschee in ein Museum umgewandelt wurde, keine rechtliche Grundlage hatte und annulliert sie. Erdogan verliert keine Zeit und beauftragt die Religionsbehörde, alle Vorkehrungen für das Freitagsgebet nur 14 Tage später zu treffen. Deren Vorsitzender Ali Erbas spricht von einem „Sieg der muslimischen Welt“ und hält bei seiner ersten Predigt in der Hagia Sophia ein Schwert in der Hand – das Symbol der osmanischen Eroberung.
Gut vier Jahre sind seitdem vergangen. Der wissenschaftliche Rat wurde zwar nicht offiziell abgeschafft, seine Kompetenzen aber stark beschnitten. Die Verantwortung für die Hagia Sophia liegt nun bei der Religionsbehörde. Kritiker bemängeln, dass die nicht über die notwendige Expertise im Umgang mit historischen Denkmälern verfüge, ihren Fokus allein auf die religiöse Funktion des Gebäudes und nicht auf die Konservierung unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten lege. Das größte Problem stellt jedoch der massive Besucherandrang dar. Als Museum verzeichnete die Hagia Sophia etwa 10.000 Besucher pro Tag, mittlerweile sind es geschätzte 50.000. Es kommen nicht nur Touristen, sondern vor allem Gläubige, die in dem weltberühmten Gebäude beten wollen – und dafür keinen Eintritt zahlen müssen.
Die Freundschaft zwischen Aylin, Can und Hassan wäre an ihrer Kontroverse beinahe zerbrochen. „Im Streit um den Status der Hagia Sophia wurde uns erstmals so richtig bewusst, dass wir völlig unterschiedliche politische Standpunkte vertreten“, stellt Hassan fest. Mittlerweile hätten sich die Wogen geglättet, „weil wir weniger emotional diskutieren.“ Über die Hagia Sophia sagt Aylin heute: „Das Positive ist, dass Erdogan bislang Wort gehalten hat und sie immer noch für alle zugänglich ist – wenn auch mit Einschränkungen.“ Can nickt und fügt optimistisch hinzu: „Sie hat unzählige Epochen der Menschheitsgeschichte überstanden – auch dieses Kapitel wird sie meistern.“