Vom großen Glück der kleinen Dinge
Das japanische Konzept des Ikigai gilt als ein Schlüssel für ein langes, gesundes und zufriedenes Leben. Der japanische Hirnforscher Ken Mogi hat es wissenschaftlich betrachtet und weiß, warum es glücklich und gesund macht.

Er hat noch ein Foto von damals, bei seinen Vorträgen zeigt er es gerne: Ein kleiner Junge mit großem Schmetterlingsnetz, auf der Jagd nach dem nächsten Falter. Er sei damals begeistert gewesen von Farben und Mustern, erzählt Ken Mogi seinen Zuhörern, manchmal habe er komplett die Zeit vergessen beim Betrachten seiner Beute. Die feinen Zeichnungen auf den Flügeln. Die ineinander fließenden Farben. Die kreisförmigen oder gezackten Muster. „Wo ich aufgewachsen bin, gab es 52 verschiedene Schmetterlingsarten. Von jeder wollte ich unbedingt ein Exemplar fangen. Jahrelang bin ich nach der Schule losgezogen. Die Farben, die Muster, die Vielfalt der Insekten haben mich so glücklich gemacht! Die Schmetterlinge – die waren damals mein Ikigai.“
Ken Mogi ist Hirnforscher und einer der bekanntesten Wissenschaftler Japans. Hauptberuflich leitet er die Computer Science Laboratories bei Sony und beschäftigt sich vor allem mit der Frage, ob Maschinen jemals ein Bewusstsein entwickeln können. Der 62-Jährige hat über hundert Bücher veröffentlicht, moderiert Fernseh- und Radiosendungen und wird auf der Straße erkannt. Was bestimmt auch an seiner grauen Mähne liegt, die aussieht, als würde er jeden Morgen sehr viel Zeit damit verbringen, sie so wirr und verwuschelt wie möglich zu gestalten. In Deutschland ist Mogi aber vor allem für eines bekannt: Er ist der Mann, der dem Westen Ikigai näher gebracht hat. 2017 erschien sein Büchlein über die japanische Lebenskunst. Anschließend dauerte es ein paar Monate, dann sprach jeder davon. Die Talkshow-Hosts. Die Lifestyle-Coaches. Die Achtsamkeits-Influencerinnen bei TikTok. Am Ende sogar Psychologen in ihren Praxen.

Sinn im Leben finden
Ikigai? Das Wort setzt sich zusammen aus 生き, "Leben", und 甲斐, "Sinn“, und beschreibt genau das: das, wofür es sich zu leben lohnt. Mogi rät, das wörtlich zu nehmen und gar nicht erst zu versuchen, den Begriff mit einem philosophischen Hintergrund aufzuladen. Tatsächlich gehe es um das Erkennen dessen, was einen erfüllt und zufrieden mache, sagt er. Das könne der Gesang einer Amsel am Morgen sein oder Wolken, die am Himmel vorbeiziehen. Der Geschmack von frischen Pflaumen oder auch die Freude, die man bei einer bestimmten Tätigkeit empfindet. „Für jeden ist es etwas anderes“, sagt Mogi, „und manchmal dauert es vielleicht länger, bis man es erkennt.“ Man hat sein Ikigai gefunden, sagt man dann. Bei seinen Vorträgen – z.B. auf den Innovationskonferenzen TED – betont der Wissenschaftler immer wieder, wie trivial es einem möglicherweise vorkommen mag, wenn man beim Gassigehen mit dem Hund eine innere Zufriedenheit verspüre. Oder glücklich sei, wenn im Garten eine Rose blühe. Es gehe aber tatsächlich darum, diese Momente zu erkennen. „Es gibt Menschen, die finden ihr Ikigai nach dem Abwasch, wenn sie die Weingläser polieren.“
In der japanischen Kultur ist diese Lebensweise so tief und fest verankert, dass die meisten Menschen dort auf die Frage nach ihrem Ikigai erst einmal keine Antwort haben. „Für uns Japaner ist das kein Konzept. Auch keine Regel oder ein philosophisches Gedankenkonstrukt“, erklärt Mogi. „Es ist eher wie Atmen. Wir machen es einfach.“ Deswegen sind Menschen wie Sumiko Iwamura in Japan auch keine Exoten. Die knapp 90-jährige Köchin bereitet tagsüber Dumplings zu und legt als DJ Sumirock nachts in den Clubs von Tokio auf. Techno. Das macht sie zufrieden und glücklich, das ist ihr Ikigai.

Jiro Ono ist schon weit über 90 und hat sich in seinem winzigen Sushi-Restaurant drei Michelin-Sterne erarbeitet. Onos Ikigai, so erklärt es Mogi, seien seine extreme Liebe zum Detail und zur Einfachheit. Und Regisseur Wim Wenders folgt in seinem Film „Perfect Days“ einem Toilettenreiniger durch Tokio. Hirayama wienert und putzt und macht aus der Routine ein Ritual. Er redet nicht viel, sieht aber umso mehr – und findet Schönheit im Alltäglichen. Wenn er während seiner Mittagspause in einem Park bemerkt, wie das Licht mit den Kronen der Bäume spielt, bedankt er sich mit einem leichten Kopfnicken. Jetzt ist jetzt, und morgen ist morgen, sagt seine Stimme aus dem Off. Auch das ist Teil des Ikigai-Prinzips: Im Hier sein. Nicht an die Zukunft denken. Den Augenblick feiern. Momente sind einzigartig. Sie kehren nicht zurück.
Die fünf Säulen des Ikigai
In seinem Bestseller kommt Ken Mogi immer wieder auf fünf Säulen zurück, auf denen die Ikigai-Lebenskunst basiert – dieses „Im Hier und Jetzt sein“ ist eine davon. „Loslassen lernen“ ist eng damit verbunden und meint z. B., sich nicht zu sehr an Vergangenheit und Vergangenes zu klammern, aber auch, das eigene Ego mit seinen Erwartungshaltungen zu ignorieren. Die anderen Säulen? „Klein anfangen“ – so wie Sushi-Meister Ono z. B. zuerst spezielle Behälter gebaut hat, die auf den Tresen seines winzigen Restaurants passten. „Harmonie und Nachhaltigkeit leben“ steht für die eigene Eingebundenheit in die Welt und den Versuch, sein Leben in der Gesellschaft harmonisch zu gestalten. „Die Freude an kleinen Dingen entdecken“ ergänzt als letzte Säule das Prinzip.
Ken Mogi hat herauszufinden versucht, seit wann es das Prinzip Ikigai in der japanischen Kultur gibt. Schriftliche Quellen liegen für das 14. Jahrhundert vor, aber vermutlich haben die Menschen schon viel früher das Wertschätzen der kleinen Dinge und Momente verinnerlicht. Möglicherweise hat sich Ikigai auch mit den furchtbaren Katastrophen entwickelt, die immer wieder über Japan hereinbrachen: Kriege, Hungersnöte, Erdbeben, Tsunamis. In Europa suchten die Menschen in ihrer Ohnmacht damals Zuflucht im Glauben. In Japan versuchte man, sich selbst zu helfen. Und zu heilen.

Perfektion für Kiesbeete und Erdbeeren
Wer von Ikigai weiß, entdeckt bei einer Reise durch Japan immer und überall Menschen, die es gefunden zu haben scheinen. Der Gärtner, der in einem Tempelgarten selbstvergessen die Blätter eines Busches stutzt, Schnitt für Schnitt, mit einer Schere, die er anschließend liebevoll säubert und in ein Tuch einschlägt, bis zum nächsten Morgen. Die junge Frau, die jedes Mal die Augen schließt und tief einatmet, wenn sie ihre Schale mit Tee zum Mund führt. Und wie sonst soll man sich all die akkurat geharkten Kiesbeete in den Parks erklären, wenn nicht mit Ikigai? Wie die liebevoll und aufwändig gefalteten Origami-Figuren, die man auf dem U-Bahn-Sitz findet? Und wie die Sembikiya-Läden, in denen seit über hundert Jahren zu horrenden Preisen ausschließlich absolut perfektes Obst verkauft wird? Irgendwer züchtet all diese makellosen Pfirsiche, Erdbeeren und Melonen. Weil er seine Arbeit so perfekt wie möglich machen möchte. Weil er darin sein Ikigai gefunden hat.

„In Japan gibt es eine hohe gesellschaftliche Erwartungshaltung, und Ikigai hilft den Menschen, damit zurecht zu kommen“, sagt Ken Mogi. Auch der immer größere Stress im Berufsleben sei so besser zu bewältigen. Das sei auch ein Grund, weshalb der Westen sich auf einmal so für Ikigai interessiere. „Wir leben doch in einer Zeit, in der alle ständig nach Orientierung suchen. Klimawandel, technischer Fortschritt, künstliche Intelligenz, das alles setzt die Menschen unter Druck.“ Ikigai liefere einen Entwurf für ein besseres Leben in einer Zeit des Umbruchs. „In jeder Nachrichtensendung wird uns vor Augen geführt, dass nichts auf dieser Welt für immer ist. Wenn wir es schaffen, Sinn und Glück im Alltäglichen zu entdecken und gleichzeitig zu akzeptieren, dass Dinge vergänglich sind, dann geht es uns besser.“
Und wenn man sein Ikigai nicht findet? Hat Ken Mogi einen Tipp für die Suche? Hat er. „Am besten beginnt man mit kleinen Schritten und beobachtet sich selbst.“ Was macht es mit einem, wenn man morgens für fünf Minuten aus dem Fenster schaut? Fühlt man sich zufrieden, wenn man bei jedem Spaziergang einige Worte mit einer fremden Person wechselt? Oder liebt man die Morgengymnastik mit vielen anderen im Park? Freude an kleinen Dingen entdecken, im Hier und Jetzt sein: Der Rest, sagt Mogi, komme schon von ganz allein.
Hält ein Ikigai lebenslang? Nicht unbedingt. Oft sogar nicht. In so einem Fall muss man sich dann eben ein neues suchen. Als Kind habe er für Schmetterlinge alles stehen und liegen gelassen. Heute seien das für ihn – nur noch Schmetterlinge, sagt der Mann mit der sorgsam zerrupften Frisur. Möglicherweise ist das ja sein neues Ikigai: Morgens vor dem Spiegel so lange an seinen Haaren zu zupfen, bis sie aussehen wie etwas, dass Tokios Krähen mit ihrem Nest verwechseln könnten.