Sie strahlen wieder
Seit der Antike zählen die Kalksinterterrassen von Pamukkale zu den landschaftlichen Highlights der Region – bis der Tourismus sie innerhalb weniger Jahrzehnte beinahe zerstört hätte. Die Rettung verdanken sie ihrem Status als UNESCO-Welterbe.
Das Wasser glitzert und funkelt in der Sonne. Ist es Schmelzwasser, das über gigantische Eisterrassen den Berg hinunterläuft – mitten in einer ansonsten grünen Landschaft? Aysegul zieht ihre Sandalen aus und spaziert über den weißen Boden, der weder rutschig noch kalt ist – im Gegenteil. Warmes Thermalwasser fließt über ihre Füße, der Untergrund ist angenehm glatt, aber griffig. „Was aus der Ferne aussieht wie eine Winterlandschaft“, sagt die 57-Jährige, die seit vielen Jahren u. a. in Pamukkale als Reiseleiterin arbeitet, „ist in Wirklichkeit ein Kunstwerk aus Kalk.“
Das Naturwunder von Pamukkale nahe der Stadt Denizli und etwa 230 Kilometer östlich von Izmir liegt in einem tektonisch aktiven Gebiet. An mehreren Stellen entspringen Thermalquellen. Sobald das mit mineralischen Stoffen angereicherte, 35 Grad Celsius warme Wasser aus dem Boden sprudelt, kühlt es ab und verdunstet in der Sonne. Kalziumkarbonat lagert sich auf der Oberfläche ab, überzieht alles, Schicht um Schicht, und wird zu einem natürlichen Kalkstein. Dieser weiße Travertin – und nicht Eis – verleiht Pamukkale das so charakteristische Aussehen.
Kurort bereits in der Antike
Bereits die alten Römer erkannten die heilende Wirkung des kohlensäurehaltigen und kalziumreichen Thermalwassers und bauten die von den Griechen gegründete Stadt Hierapolis auf dem Plateau oberhalb der Sinterterrassen zu einem Kurort aus. Menschen aus dem gesamten Römischen Reich kamen hierher, um in den Becken zu baden und Hautkrankheiten oder Rheuma auszukurieren.
Die Ruinen von Hierapolis erinnern mit dem Großen Bad und dem Nymphaeum, der einst prächtig verzierten öffentlichen Brunnenanlage, nicht nur an die ausgeprägte Badekultur, sondern bieten alles, was sonst zu einer antiken Stadt gehört: Tempel, ein Amphitheater und die größte Nekropole Kleinasiens. „Selten begegnet man einer so perfekten Kombination von Natur und Kultur wie in Pamukkale“, findet Aysegul.
Reichtum bescherten Hierapolis nicht nur die erholungssuchenden Badegäste, sondern auch der Textilhandel. Der Ort war umgeben von Baumwollplantagen und ist es – als Textilzentrum der Türkei – bis heute. Dieser Tatsache verdankt Pamukkale seinen Namen „Baumwollschloss“, der sich aus den türkischen Wörtern „pamuk“ (Baumwolle) und „kale“ (Burg oder Schloss) zusammensetzt. Wer mit dieser herrlich weißen Landschaft nicht Schnee und Eis assoziiert, könnte tatsächlich auf die Idee kommen, dass sich hier flauschige Haufen aus Baumwolle angesammelt haben.
Serkan betreibt zusammen mit seiner Familie im Tal unterhalb des berühmten Touristenhighlights eine Baumwollplantage. „Schon in der Antike wurden die Fasern mit Thermalwasser gefärbt“, erzählt der 63-Jährige, während er fachmännisch eine Baumwollkapsel auf ihre Reife prüft. „Das haben mein Vater und Großvater noch so gemacht. Doch nach mehreren Dürreperioden ist der Grundwasserpegel gesunken, und das Verbot der Regierung, Thermalwasser zu nutzen, erschwert uns die Arbeit zusätzlich.“
Strenger Schutz für die Sinterterrassen
Denn Pamukkale steht heute unter strengem Schutz. Dazu gehört auch, dass das Thermalwasser nicht mehr unkontrolliert für landwirtschaftliche Zwecke abgezapft werden darf. Auch wenn Bauern wie Serkan darüber schimpfen, hält Aysegul, die viele Sommer bei Verwandten in Denizli verbracht hat, die Maßnahmen für absolut notwendig. „Als Kind bin ich noch über die schneeweißen Sinterterrassen gelaufen“, erinnert sie sich. „Und wir haben in den natürlichen Becken gebadet.“ Doch im Laufe der 1980er-Jahre habe sich die Situation dramatisch verändert. Damals lockte die traumhafte Kulisse mehr und mehr Touristen, vor allem auch aus dem Ausland, an.
Um den Besuchern eine möglichst komfortable Anfahrt zu ermöglichen, hatte die Regierung eine Straße mitten durch das Naturwunder gebaut. Mehrere Hotels entstanden an der oberen Kante der Terrassen – mit herrlichem Ausblick auf die Kalklandschaft und in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Ruinen von Hierapolis. Kaum jemand dachte daran, welche Auswirkungen dies auf das fragile Ökosystem haben könnte.
Die Hotels verschandelten nicht nur die bis dato unberührte Landschaft, sondern verbrauchten auch Unmengen Thermalwasser für ihre Infrastruktur und Pools – mit verheerendem Ergebnis: Die Sinterterrassen, über die Jahrtausende lang permanent Wasser lief, trockneten aus. Es bildeten sich keine frischen Kalkablagerungen mehr, dafür hinterließen Algen und andere Mikroorganismen einen graugrünen Belag. Für zusätzliche Verunreinigungen sorgten tausende Touristen tagtäglich, die mit ihren Schuhen den empfindlichen Kalkstein abrieben und in den natürlichen Becken beim Baden Sonnencremerückstände hinterließen. „Pamukkale wurde ein Paradebeispiel für Umweltsünden und Tourismus, der sich um Nachhaltigkeit nicht scherte“, sagt Reiseleiterin Aysegul.
Ernennung zum Welterbe
Trotzdem – und zum Glück – erklärt die UNESCO Pamukkale und Hierapolis aufgrund der außergewöhnlichen geologischen und kulturellen Bedeutung 1988 zum Welterbe, mahnt aber zugleich, strenge Schutzmaßnahmen zu ergreifen, um weitere Schäden zu verhindern und die bereits entstandenen zu beheben. Tatsächlich fürchtet die türkische Regierung, dass die UNESCO die Auszeichnung wieder aberkennt und dass sich dies negativ auf den Tourismussektor auswirken könnte. Als vielleicht drastischste Maßnahme enteignet sie, gestützt auf das Gesetz zum Schutz der nationalen Natur- und Kulturgüter, die Hoteleigentümer in Pamukkale, zahlt Entschädigungen und genehmigt ihnen, neue Hotels in der Nähe zu bauen. Die Hotels und die Straße, die mitten durch das Naturwunder führt, werden Anfang der 1990er-Jahre abgerissen. Aysegul erinnert sich, als sie nach einigen Jahren wieder nach Pamukkale kam, wie schockiert sie war: „Ich glaube, es war 1997. Man konnte die Fundamente teilweise noch sehen, und an manchen Stellen sogar die Fußbodenfliesen der ehemaligen Hotels.“ Die Sinterterrassen waren an wenigen Stellen wieder weiß, doch schmutziges Grau überwog. Die Renaturierung steckte da noch in den Anfängen.
Das türkische Kultur- und Tourismusministerium sowie das Ministerium für Umwelt und Urbanisierung kümmern sich maßgeblich um die Planung und Durchführung der Renaturierung. Sie konsultieren türkische und internationale Geologen, Hydrologen und Ökologen, um die besten Methoden zur Wiederherstellung der Sinterterrassen zu ermitteln. „Das Unterfangen ist kompliziert“, erklärt Aysegul, „denn die Thermalquellen sprudeln nicht mehr so üppig wie sie es zum Beispiel getan haben, als ich noch ein Kind war.“ Die Experten tüfteln ein kompliziertes Bewässerungssystem aus und steuern den Wasserfluss so, dass sich möglichst schnell und möglichst flächendeckend Kalk bildet. Heute sind sämtliche Reste der Bausünden unter weißem Travertin verschwunden.
Auf der ehemaligen Straße, die als solche nicht mehr erkennbar ist, dürfen Touristen barfuß spazieren gehen und in künstlich angelegten Becken plantschen – aber nur dort. „Wer nicht weiß, wie es hier vorher aussah, glaubt hundertprozentig, dass die Becken natürlich sind“, sagt Aysegul.
Regelmäßig ertönen Trillerpfeifen, um Touristen, die die eigentlichen Terrassen betreten, zu ermahnen, auf dem vorgeschriebenen Weg zu bleiben. Nachts überwachen Kameras das Gelände, und Sicherheitskräfte patrouillieren durch Hierapolis und Pamukkale, um das Welterbe vor Vandalismus, Raubgrabungen und anderen schädlichen Aktivitäten zu schützen. „Die Renaturierung ist wirklich gelungen“, findet Aysegul. „Das Wasser hat es tatsächlich geschafft, die Wunden, die die Menschen der Landschaft zugefügt haben, zu heilen.“