Nur nicht aus der Reihe tanzen?
Japans Jugend sucht ihren Platz im Leben zwischen J-Pop und Paukschulen, Love Hotels und Hotel Mama. Die Regierung unterstützt die jungen Bürger mit der Senkung des Wahlalters und staatlichen Dating-Apps.

Sie haben die gleiche Figur, die gleiche Größe und die gleichen langen Beine. Sie tragen den gleichen Pagenkopf, die gleichen Blusen und Trägerkleider, und ihre weißen Socken sind bei allen exakt gleich hochgezogen. Macchan, Nona, Pani, Moca, Aimu, Fuka, Seira, Nagano, Ayane, Oya, Sono, Harune, Miyuu, Kohana, Chacha, Kotone und Ui heißen die siebzehn Mitglieder der Tanzgruppe Avantgardey. Ihre beeindruckend perfekt synchronisierten Auftritte wirken wie auf Millimeterpapier ausgearbeitet. Jeder Tanzschritt sitzt, jedes Kopfrucken, jede Armbewegung. Selbst dann, wenn sie scheinbar chaotisch über die Bühne laufen oder slapstickhaft gegeneinander prallen und umfallen: Alles wirkt wie tausendfach geprobt. Was es natürlich auch ist. Der häufigste Gesichtsausdruck ist ein ungläubiges Staunen mit weit aufgerissenen Augen. Als könnten die siebzehn Tänzerinnen nicht wahrhaben, was da mit ihnen passiert.

Avantgardey sind gerade Japans berühmtester Showexport. Standen im Finale von America‘s got Talent. Waren auf den Titelseiten etlicher Magazine. Haben Werbespots für Suzuki, Onitsuka Tiger, Netflix, Crocs und die EXPO-Stadt Osaka gedreht. Fliegen von einem Auftritt zum nächsten. Und sammeln nebenbei Millionen Follower in den sozialen Netzwerken. Ihre Lolita-Reminiszenzen, die Uniformität, das Durchchoreografierte ihrer Auftritte: All das wirkt im westlichen Kulturbetrieb durch und durch japanisch. Avantgardey wissen das natürlich, wahrscheinlich spielen die Strategen hinter der Gruppe ganz bewusst mit diesen Klischees. Gleichzeitig schicken die 17 aber auch eine Botschaft an ihre Generation in Japan. Schaut mal, so sind wir. Wir sehen gleich aus. Wir kleiden uns gleich. Und machen alle das gleiche. Niemand tanzt aus der Reihe. Alle wollen perfekt sein. Aber seht mal genau hin! Achtet mal darauf, wie wir anderen im Hintergrund herumalbern, wenn eine von uns ein Interview gibt. Wie wir Grimassen schneiden. Was wir auf unseren eigenen Social-Media-Kanälen posten. Dann merkt ihr, dass wir alle eigene Persönlichkeiten sind. Genau wir ihr.
Fürs Leben pauken
Japans Jugend braucht solche Signale. In einer Gesellschaft, die geprägt ist von sozialen Normen und hohen Erwartungshaltungen, findet eine komplette Generation gerade nur sehr schwer Raum, sich selbst zu definieren. Schon von klein auf wird japanischen Kindern vermittelt, dass Lernen und Leistung der Schlüssel zu beruflichem Erfolg sind. Die Schulzeit ist geprägt von vollgepackten Stundenplänen, strengen Regeln und ständigen Leistungstests. Nachmittags verstärken die Juku den Druck: Die privaten „Paukschulen“ leisten weniger Nachhilfe (was sie eigentlich sollten), sondern spornen die Kinder und Jugendlichen immer weiter an. Anschließend soll zuhause weiter gelernt werden.

Die Folge? Japans Jugend steht unter Stress. Die Angst, in Schule oder Beruf zu versagen, prägt das Leben vieler junger Leute. Für Depressionen schämt man sich eher, als über sie zu sprechen, und professionelle Hilfe wird so gut wie nie in Anspruch genommen. Eine wachsende Zahl junger Japanerinnen und Japaner kapituliert vor dem Leistungsdruck und zieht sich zurück. Die Hikikomori (von hiku: sich zurückziehen, und komoru: sich verschließen) leben oft vollständig isoliert und jahrelang allein in ihrem Zimmer. Sie bestellen Essen online, schauen den ganzen Tag Anime und verweigern jeden Kontakt zur Außenwelt.
Jazzbars und Love Hotels
Andere suchen sich kleine Fluchten. Am späten Nachmittag ziehen überall Gruppen Schülerinnen und Schüler in ihren Schuluniformen durch Japans Innenstädte. Sie gehen Eis essen, sitzen lesend zwischen den Regalen in Buchhandlungen oder shoppen Lipgloss in den Malls. Ältere Jahrgänge sind oft absolut musikfixiert; selbst Konzerte unbekannter Bands sind meist super besucht, japanische Popstars können die größten Hallen auch an mehreren Tagen hintereinander mühelos füllen. Sehr populär sind Jazzbars, in denen DJs Schallplatten von Coltrane bis Davis auflegen. Und in nahezu jeder Shoppingmall steht irgendwo ein Piano. An das setzen sich fast immer junge Leute und spielen, umringt von ihren Freundinnen und Freunden.

Weil die Wohnverhältnisse in japanischen Städten sehr beengt sind (und die Erwachsenen alles mitbekommen würden), finden Verabredungen meist in der Öffentlichkeit statt. Das Mädchen aus der Nachbarklasse oder den Jungen aus dem Geschichtskurs trifft man in einem Café, einem Restaurant oder einem Park. Mit 18 darf man in einem Love Hotel einchecken, dessen Zimmer auf Stundenbasis vermietet werden. Viele dieser Hotels sind nach bestimmten Themen eingerichtet. Wer möchte, kann sein Date unter künstlichen Südseepalmen küssen oder in einem Zimmer, das wie eine Kulisse aus Grimms Märchen aussieht.
Posieren für Fotografen
Überhaupt hat Japans Jugend ein Faible für Fantasiewelten. Wer durch japanische Großstadtstraßen läuft, begegnet immer wieder Jugendlichen in auffallenden Outfits. Die Zugehörigkeit zu einer der vielen, vielen Subkulturen bietet jungen Menschen die Möglichkeit, eine alternative Identität für sich zu erschaffen und sich so abzukoppeln von den Erwartungen der realen Welt. Also verkleidet man sich – natürlich mit der japanischen Besessenheit für Details – als viktorianische Adelsdame, Steampunk-Prinzessin oder Rokoko-Baronesse, samt Reifenrock und Rüschenbluse. Oder man posiert als Cosplayer für Fotografen (der Begriff leitet sich ab von costume und play). Im Tokioter Viertel Ikebukuro gibt es an Wochenenden ein regelrechtes Schaulaufen. Weil die Kostümierten sich bereitwillig in Pose stellen und oft absolut fantastisch aussehen, ist das Viertel längst auch im Programm vieler Reisender.

Gut möglich, dass auch die japanische Faszination für alles Possierliche Ausdruck dieser Sehnsucht nach Eskapismus aus der fordernden Erwachsenenwelt ist. „Kawaii!“ heißt so viel wie niedlich und ist eines der Wörter, die man während einer Japanreise immer wieder hört. Plüschtiere sind kawaii, mit Kätzchen-Motiven bedruckte Rucksäcke ebenfalls und im Moment vor allem Winterpantoffeln mit farbigem Plüschfell. Offenbar ermöglicht die Kawaii-Ästhetik mit ihren Welpenvideos und Manga-Charakteren vielen einen emotionalen Rückzug in eine Kinderzeit, in der die Welt noch überschaubar war. Als man sich noch keine Sorgen um Abschlusszeugnisse und Universitätszulassungen machen musste. Und auch noch keine Gedanken um das erste selbstverdiente Geld.
Hotel Mama
Weil ein Einstiegsgehalt in einer Stadt wie Tokio oft nicht für eine eigene Mietwohnung ausreicht, bleiben viele junge Japanerinnen und Japaner übrigens lange bei ihren Eltern wohnen. Oft leiden unter dem Leben im Hotel Mama die Selbstständigkeit und der Kontakt zu anderen jungen Menschen; auch das Interesse an politischen Vorgängen und gesellschaftlichem Engagement ist bei vielen jungen Leuten nicht besonders stark. Um Jugendlichen mehr Verantwortung zu übertragen, hat die Regierung 2022 das Wahlalter von 20 auf 18 Jahre gesenkt – weil Zigaretten und Alkohol aber weiterhin erst mit 20 gekauft werden dürfen, hielt sich die Begeisterung in Grenzen. Außerdem gaben viele bei Umfragen an, sich einer solchen Verantwortung schlicht nicht gewachsen zu fühlen.

Auch Japans kontinuierlich sinkende Geburtenrate lässt sich vor diesem Hintergrund zumindest ein Stück weit erklären: Warum sollte man eine Familie gründen wollen, wenn man gerade selbst mit dem Leben überfordert ist? In Tokio sorgt sich die Stadtverwaltung mittlerweile derart um die schwindende Einwohnerzahl, dass sie mit der Dating-App Tokyo Futari Story nachhelfen möchte. Bei der Anmeldung muss man bestätigen, dass man heiratswillig ist.
Sehr erfolgreich war die App bislang nicht.