30.05.2022

Meister der Felsen

Das Tal von Vinales ist bekannt für seine Kegelkarstberge – ein riesiger Abenteuerspielplatz, der Kletterer aus aller Welt anzieht. Dass es dort heute so viele Routen gibt, ist dem US-Amerikaner Armando Menocal zu verdanken. Doch durch sein Engagement gerät er ins Visier der kubanischen Regierung.

Meister der Felsen

Die Frau am Schalter sieht sich den Reisepass sehr lange an. Immer wieder blickt sie in ihren Bildschirm, überlegt, fordert einen weiteren Identitätsnachweis. Dann sagt sie: „Es tut mir leid, Sie dürfen nicht einreisen.“ Wenige Minuten später wird Armando Menocal von einem Offiziellen abgeführt. Es ist der 25. September 2005, einige Tage später will Menocal eigentlich seine kubanische Verlobte Laura heiraten, mit der er einige Monate zuvor ein Haus auf der Insel gebaut hat. Er hat ihr Brautkleid dabei, ihre Brautschuhe, alle Dokumente. Doch nun muss der Mann aus Wyoming am Flughafen Havanna übernachten und wird am nächsten Morgen in ein Flugzeug nach Mexiko gesetzt.

Heute kann Armando Menocal über diese Geschichte lachen, als er sie im Sommer 2021 im Podcast „Climbing Gold“ von Kletterlegende Alex Honnold erzählt. Menocal ist für die Kletterszene selbst eine Legende: Denn er hat nicht nur den sogenannten „Access Fund“ gegründet und damit gesorgt, dass US-Kletterer ihren Sport weiterhin auf öffentlichem Grund ausüben dürfen. Sondern er hat auch das Klettern in Kuba maßgeblich vorangetrieben. Aber rechtfertigt das ein Einreiseverbot?

Anwalt und Kletterfan

Menocal wird 1941 als Sohn kubanischer Eltern in Miami geboren. „Als Kind war ich jeden Sommer mit meiner Mutter zu Besuch bei unseren Verwandten in Havanna. Doch als ich in die High School kam, wurden diese Besuche immer seltener – und hörten dann ganz auf.“ Er studiert Jura, wird Anwalt und fängt mit dem Klettern an, um einen sportlichen Ausgleich zum Job zu finden. Erst 1998, er lebt inzwischen in Wyoming, beschließt Menocal, wieder nach Kuba zu reisen. Das erste Mal seit 40 Jahren!

„Ich hatte einen Lonely-Planet-Reiseführer dabei und las darin etwas über das Tal von Vinales, das der Autor mit dem Yosemite-Nationalpark verglich. Das konnte ich kaum glauben! Zu dem Zeitpunkt kletterte ich schon seit 25 Jahren in Yosemite und dachte mir, das darf ich auf keinen Fall verpassen. Also bin ich hin und da waren überall diese unglaublichen Kalksteinfelsen“, berichtet Menocal im Podcast.

Armando Menocal hat das Klettern in Kuba maßgeblich vorangetrieben. Foto: Claudia Lopez www.cubaclimbing.com

Liebe auf den ersten Blick

Wer zum ersten Mal in das Tal von Vinales reist, dem wird es wahrscheinlich ähnlich gehen wie Armando Menocal. Die Schönheit der Landschaft ist atemberaubend. Auf einer Länge von rund zehn Kilometern erstreckt sich das Tal in der Provinz Pinar del Río, rund zweieinhalb Autostunden südwestlich von Havanna. Aus der Ebene erheben sich zwischen Palmen und Tabakfeldern die Mogotes, bis zu 400 Meter hohe Kegelkarstfelsen – ein Traum für Kletterer.

Das denkt auch Armando Menocal, als er die Felsen 1998 zum ersten Mal erblickt. Mithilfe von einheimischen Farmern und deren Macheten schlägt er sich durchs Unterholz und sieht sich die Mogotes genauer an. Wenige Monate später kehrt der US-Amerikaner mit ein paar Freunden zurück nach Kuba, allesamt erfahrene Bergsteiger und Kletterer. Zusammen überlegen sie sich Routen auf die Mogotes – und auch, wie sie einheimische Kletterer kennenlernen und in ihre Aktivitäten einbinden können.

Selbstgemachte Ausrüstung

Denn die Berge der Karibikinsel, vor allem rund um Havanna, haben schon Anfang der 1990er-Jahre den Entdeckergeist einiger weniger Einheimischer geweckt – geklettert wird damals mit selbstgebastelter Ausrüstung wie alten Sicherheitsgurten aus Autos, die Technik schauen sie sich aus Bergsportkatalogen ab. Unter den einheimischen Kletterern ist auch Aníbal Fernández, der bereits mit elf Jahren Felswände erklimmt und später gemeinsam mit Armando Menocal den bis heute einzigen Kletterführer für Kuba verfasst. Doch wie kann man Naturtalente wie Aníbal fördern?

„Einer von uns hatte die Idee, Ausrüstung für kubanische Kletterer mitzubringen“, erzählt Menocal in „Climbing Gold“. Gesagt, getan. Noch heute lassen ausländische Besucher ihre Bohrhaken, Seile oder Schuhe für die Einheimischen da, denn Kletterausrüstung ist auf Kuba kaum zu bekommen. Es gibt sogar die Initiative „Bolts4Cuba“ („Bohrhaken für Kuba“), die hochwertiges Zubehör von Spendengeldern kauft. Obwohl sie aus zwei Ländern stammen, die zu der Zeit einander nicht gerade zugetan sind, freunden sich die US-amerikanischen und kubanischen Kletterer an und erschließen gemeinsam zahlreiche Routen, vor allem im damals fast unberührten Tal von Vinales.

Kopfüber an den Felsen

„Wir haben uns in Kuba verliebt und sind in der ersten Zeit alle paar Monate hingereist“, sagt Menocal. „Ich war knapp 60 Jahre alt und wurde plötzlich Sportkletterer. Zuvor bin ich immer nur einfache Routen geklettert.“ Tatsächlich sind die Routen im Tal von Vinales anspruchsvoll, jedoch gut gesichert. Die Felswände ragen senkrecht in den Himmel und haben oft spektakuläre Überhänge, an denen Stalaktiten wachsen. Das Gestein ist porös und wird bei Regen rutschig. Daher beginnen die Schwierigkeitsstufen der inzwischen mehr als 350 Routen meist bei 6a, was ungefähr im mittleren bis höheren Bereich liegt. Vinales ist also vor allem ein Paradies für erfahrene Kletterer – auf einigen Routen hängen sie sogar kopfüber in der Luft, während sie mit den Füßen die Stalaktiten umklammern.

Die kubanische Regierung lässt sich von diesen sportlichen Höchstleistungen anfangs nur schwer beeindrucken. Immer wieder haben die Kletterer im Tal von Vinales Probleme mit der Polizei. „Der erste Ärger für uns begann 2003. Denn der Sportapparat erlaubte keine Aktivitäten, die er nicht kontrollieren konnte. Genau das war aber Klettern“, erzählt Armando Menocal im Podcast. Polizisten hätten versucht, Kletterer von den Felsen zu vertreiben, es habe Festnahmen gegeben. Auch Armando Menocal ist den Behörden ein Dorn im Auge.

Armando Menocal in jüngeren Jahren – natürlich beim Klettern. Foto: Craig Luebben www.cubaclimbing.com

Unter Verdacht

Warum er 2005 mit einem Einreiseverbot belegt wird? Den Grund weiß der 81-Jährige bis heute nicht. Was jedoch klar ist: „Die Regierung hat mich beobachtet. Ich weiß, dass sie in meinem Hotelzimmer waren, Notizen und Fotos mitgenommen haben. Das weiß ich deshalb, weil festgenommenen kubanischen Kletterern Kopien dieser Notizen und Fotos gezeigt wurden und sie Fragen dazu beantworten mussten: Was steht hier? Was bedeutet 7B+? Die Polizei dachte, das wären Codes! Aber natürlich waren es die Schwierigkeitsgrade von neuen Routen, die wir erschlossen hatten“, erzählt Menocal lachend. „Sie hatten sogar Fotos von mir, wie ich irgendwo in der Landschaft stand und nach neuen Routen suchte. Aber ich hätte nie gedacht, dass das alles dazu führen würde, dass ich ein Einreiseverbot bekommen würde!“ Doch damit ist die Geschichte für den US-Amerikaner noch nicht zu Ende.

Klettern in Kuba – ist es nun erlaubt oder nicht? Diese Frage taucht in vielen Kletterforen auf, auch in deutschsprachigen. Bis jetzt scheint sich die Regierung nicht so richtig entscheiden zu können. „Sie sagt nicht: Es ist verboten. Sie sagt: Es ist nicht genehmigt“, so Menocal. Trotz dieser Unklarheit ist Vinales inzwischen ein beliebter Kletterspot für Sportler aus aller Welt geworden, es findet sogar jährlich ein Kletterfestival statt. Wenn es Ärger gibt, sind vor allem einheimische Kletterer betroffen, Touristen bleiben meist unbehelligt.

Die kubanische Kletterszene wächst

Doch das hält kubanische Outdoor-Enthusiasten nicht davon ab, die Kalksteinfelsen von Vinales hochzukraxeln. Im Gegenteil: Es werden immer mehr. Oder wie es auf Menocals und Fernández‘ Website cubaclimbing.com so schön heißt: „Die Regierung tut so, als würde sie alles kontrollieren. Die Kubaner tun so, als würden sie gehorchen.“ Den Pionieren der 1990er-Jahre sind zahlreiche junge Kletterer nachgefolgt, die auch geführte Touren für Gäste aus dem Ausland anbieten und neue Routen im Osten der Insel erschließen.

Und Armando Menocals Einreiseverbot? Es wird aufgehoben, wieder erlassen, wieder aufgehoben, wieder erlassen. Und 2016 schließlich wieder aufgehoben. Ohne Angabe von Gründen. Zwischendurch dauert es sogar fünf Jahre, bis seine jetzige Frau Laura ausreisen kann. Heute lebt das Ehepaar abwechselnd in den USA und in Kuba. „Wenn wir jetzt in Kuba sind, sagt Laura oft, dass ich aufpassen muss, was ich tue, damit ich nicht noch mal Ärger bekomme. Aber dann sage ich immer: Ich weiß nicht mal, was ich das erste Mal falsch gemacht habe. Woher weiß ich denn dann, was ich nicht machen darf?“, sagt der Kletteraktivist und lacht.

Doch Armando Menocal wäre wahrscheinlich nicht Armando Menocal, wenn er sich von all dem hätte einschüchtern lassen. Im Gegenteil: Mittlerweile ist er Chef von „Acceso PanAm“ – einer Organisation, die sich für Kletterer in ganz Lateinamerika einsetzt.

Außerdem interessant:

Schon beim Lesen Schnappatmung bekommen? Keine Sorge: Das Tal von Vinales bietet auch zahlreiche Aktivitäten für Nicht-Kletterer – zum Beispiel Wanderungen, Radtouren oder Ausritte.

Die UNESCO nimmt das Tal von Vinales 1999 in ihr Welterbe auf. Manche Kletterer vermuten, dass dies der Grund für die Schikanen seitens der kubanischen Regierung sein könnte – eine Bestätigung dafür gibt es nicht.

Einen interessanten Einblick in die Situation kubanischer Kletterer liefert dieser kurze Film – auch Armando Menocal kommt darin zu Wort (Spanisch mit englischen Untertiteln).