18.01.2023

Die irische Wohlfühl-Formel

Dass wir uns in Irish Pubs ziemlich wohlfühlen, hat nicht nur mit Guinness, Live-Musik und dem netten Barkeeper zu tun: Irische Kneipen sind oft nach einer bestimmten Formel eingerichtet. Ein Dubliner Architekt hat sie erforscht – und mit ihrer Hilfe über 2000 Pubs gebaut, überall auf der Welt.

Die irische Wohlfühl-Formel

Der Sturm bläst jetzt noch heftiger da draußen, in langen Schüben zieht er über den Atlantik heran, man kann spüren, wie er gegen das Gebäude drückt. Draußen vor den Fenstern schlingern die Masten der Boote hin und her, und wenn die Wellen zu stark an die Kaimauern schlagen, überzieht anschließend ein feiner Film die Scheiben. Man hört ihn auch heulen, den Sturm, jedes Mal, wenn die Tür sich öffnet und ein durchnässter Gast in den Raum kommt, hört man ihn. Als sei er wütend, dass er es über das weite Meer geschafft hat und jetzt nicht hineinkommt in diesen Pub, um auch hier drinnen alles durcheinander zu wirbeln. Das Mooring’s sitzt direkt hinter der Kaimauer von Portmagee, und drinnen sitzen die Menschen im Warmen und erzählen sich Geschichten vom Wetter. So wie in jedem Pub entlang der irischen Westküste an diesem Sturmabend. So wie überall in Irland.

Jeder, der schon einmal auf der Grünen Insel unterwegs war, kennt dieses Gefühl: Man betritt einen Pub - und weiß, dass nun alles gut wird. Dass das hier genau der Ort ist, an dem man jetzt sein sollte. Dass man deswegen auch erst einmal bleiben wird. Natürlich lässt sich diese Stimmung oft mit dem Wetter draußen vor der Tür erklären, mit müden Füßen oder der Aussicht auf eine große Portion Fish and Chips und ein gut gezapftes Pint Guinness. Manchmal aber beschleicht einen nach einer Zeit eine Ahnung, dass all das allein vielleicht nicht ausreicht als Erklärung. Dass möglicherweise mehr dahinsteckt. Dass irgendetwas an dem Pub selbst dieses Wohlfühlgefühl auslöst.

Eine Formel für den Erfolg?

Mel McNally kennt das. Hat es ja selbst oft genug gespürt. Als Kind, mit den Eltern, die ihn mitgenommen haben. Und später als Architekturstudent in Dublin, wenig Geld, ein karges Zimmer irgendwo in einem Hinterhaus: Die meiste Zeit hat er im Pub gesessen und sich ein Pint so eingeteilt, dass er Stunden bleiben konnte. Irgendwann ist ihm aufgefallen, dass in der Stadt Bars, Clubs und Restaurants kamen und gingen, manchmal so schnell, dass sie schon wieder geschlossen hatten, bevor man überhaupt wusste, dass es sie gab. Nur die Irish Pubs blieben. Manche waren schon seit Jahrhunderten da.

Der Architekturstudent McNally wollte wissen, an was das lag. Ob es möglicherweise eine Formel für den Erfolg gibt. Also hat er angefangen, sich Notizen zu machen, wer kommt, wer bleibt wie lange, wer geht. Er hat Abstände ausgemessen, die Höhe des Tresens, den Weg von der Tür zur Bar, hat die Leuchtkraft der Glühbirnen kontrolliert und lange Gespräche mit den Barkeepern geführt. Jahre später hatte er das Geheimnis der Kneipen entschlüsselt. Seitdem macht Mel McNally Irish Pubs. In den vergangenen vier Jahrzehnten hat er über zweitausend entworfen, designt und an ihre Besitzer übergeben. Überall auf der Welt. Gut möglich, dass keiner mehr über irische Pubs weiß als der 63-Jährige.

Architekt Mel McNally hat die Wohlfühl-Formel der Irish Pubs erforscht.

Na ja, sagt er, das werde gerne so dahin geschrieben: Als ob er plötzlich einen magischen Trick entdeckt habe. „Aber eigentlich hat sich das alles nach und nach ergeben. Wie bei einem Puzzle.“ Mel McNally sitzt in seinem Büro in einem Vorort von Dublin, zwei Schreibtische, ein  Computer, Pläne und Skizzen, mittendrin das Modell einer hölzernen Trennwand mit schmalen Abstellflächen für Gläser. Damit könne man bereits viel erklären, sagt er, solche Trennwände gehörten unbedingt in einen Irish Pub: „Mit denen schafft man einen Raum im Raum. Das ist sehr wichtig. Ein Pub muss immer wie eine Kombination aus Festsaal und Wohnzimmer sein, es muss Platz für Geselligkeit geben und Platz für den Rückzug.” Deswegen seien Irish Pubs meist verwinkelt, deswegen entdecke man manchmal auch beim dritten Besuch noch neue Räume weit hinten im Gebäude. “Man braucht Plätze zum Plaudern, Erzählen und Angeben. Und Ecken, in denen man seinen Kummer mit Bier betäuben kann, ganz für sich allein. Ein Irish Pub, der nur aus einem großen, offenen Raum besteht – der würde nie funktionieren.”

Man betritt einen Pub - und weiß, dass nun alles gut wird.

Mit den Jahren hat McNally dieses Zusammenspiel von öffentlichem und privatem Raum in seinen Entwürfen perfektioniert. Aber natürlich machen verwinkelte Räume und Trennwände am Tresen noch lange keinen erfolgreichen Pub, und natürlich würde McNally niemals alle Einzelheiten seiner Formel verraten (bei der es ja nicht nur um zufriedene Gäste geht, sondern auch um Umsatz und Gewinn). Das meiste seien sowieso Details, die der Gast nur unterbewusst wahrnehme, sagt er. Die Raumtemperatur. Die Beleuchtung. Die Spiegel an den richtigen Stellen an den Wänden, das alles müsse stimmen. „Und man muss den Barkeeper sehen, wenn man in der Tür steht.“

Wie ein Licht am Horizont

Selbst für die Anordnung der Spirituosen hinter der Bar gibt es feste Regeln. Die Beleuchtung dürfe weder zu stark noch zu schwach sein, sagt er, am besten sei es, die Flaschen leuchteten wie ein Licht am Horizont. „Und Etiketten sollte man gerade noch entziffern können. Zwischen 30 und 50 Prozent aller Gäste wissen nämlich noch nicht, was sie bestellen werden, wenn sie an den Tresen treten. Wenn sie sich dann von der gut beleuchteten Flaschenauswahl angezogen fühlen, ordern sie eher einen teuren Whiskey als ein Glas Bier beim Barkeeper.“ Der Mann hinter der Theke sei natürlich auch eine wichtige Komponente für den Erfolg. Gleichzeitig Demokrat und Autokrat müsse er sein, manchmal auch Psychiater, manchmal Priester. „Und er muss dafür sorgen, dass sich der Gast von der ersten Minute an nicht wie ein Fremder fühlt.“

McNallys Formel scheint überall auf der Welt zu funktionieren. Schon in den 1990er-Jahren hat er sein Wissen zum Geschäft gemacht und die Irish Pub Company gegründet, die Kneipen in der Schweiz und in Kenia gebaut hat, in Bangkok, Moskau und Berlin. Jeder seiner Pubs ist made in Ireland; McNally beschäftigt Schreiner, Glaser, Innenausstatter und Dekorateure auf der Insel und verschifft am Ende die komplette Inneneinrichtung. Und er bietet Rundum-sorglos-Pakete an: Wer will, kann zum Pub auch Kurse für die Angestellten bestellen. Und die Beratung bei Getränke- und Gläserauswahl, Tipps für die Musikzusammenstellung, und welches Licht zu welcher Tageszeit eingeschaltet werden soll, das auch. „Wenn man alles richtig macht, gibt es in der Gastronomie kaum eine risikoärmere Investition als einen Irish Pub. Im Schnitt schafft der den drei- bis vierfachen Umsatz einer normalen Bar im gleichen Viertel.“

Als sei man schon hundert Mal da gewesen

Während Irish Pubs überall auf der Welt erfolgreich sind, geht es der Institution in ihrer Heimat selbst mittlerweile übrigens alles andere als gut. In den Städten merkt man das nicht unbedingt, auf dem Land aber haben in den vergangenen Jahren inselweit mindestens 1500 Pubs geschlossen – etwas, das lange Zeit undenkbar gewesen ist. Gründe? Das Rauchverbot, strengere Promillegrenzen und häufigere Polizeikontrollen, steigende Preise für Bier und Pacht sowie eine überalterte Bevölkerung. Aber natürlich findet man auch 2023 noch überall in Irland Kneipen, bei denen man sofort an McNallys Formel denken muss. In denen man sich beim ersten Besuch fühlt, als sei man schon hundert Mal da gewesen. In denen die Angestellten geduldig die Unterschiede der Biersorten erklären und der Barkeeper ein gezapftes Pint beinahe zärtlich auf den Tresen stellt. In denen 1952 zum letzten Mal renoviert wurde, weil ja alles gut aussieht, so, wie es ist. In denen man merkt, dass das Herz der Insel in ihnen schlägt.

Im Mooring’s in Portmagee rüttelt der Sturm noch immer an den Fensterscheiben, aber mittlerweile hört man ihn nicht mehr: Dafür ist es drinnen einfach viel zu geräuschvoll geworden. Die Musiker sind eingetrudelt, einer nach dem anderen, und jetzt sitzen sie in einem Halbkreis in einer Ecke und spielen wehmütige Balladen, in denen es um eine Niederlage gegen die Engländer 1657 geht oder um die ausgewanderten Söhne, die wegen der Kartoffelmissernte nach New York aufgebrochen sind. Es sind Lieder, die jeder hier bereits tausendmal gehört hat, die den Menschen aber trotzdem noch immer die Tränen in die Augen treiben. Auch das kann ein Irish Pub sein: ein Ort, an dem die Zeit einen Bogen schlägt von Heute nach Damals. An dem sich die Alten jung fühlen und die Jungen an die Vergangenheit erinnert werden. Mit McNallys architektonischen Erkenntnissen hat das wahrscheinlich nichts zu tun. Aber es muss ja auch nicht für jedes Gefühl eine Formel geben.