Der Mythos lebt

In dem berühmten Hotel Carlton am Boulevard de la Croisette in Cannes posiert die deutsche Influencerin Leonie Hanne in einer umwerfenden Robe des Labels Nicole + Felicia. Die Fotokulisse könnte nicht schöner sein: Die Alfred-Hitchcock-Suite, in der sich Grace Kelly und Cary Grant im Film „Über den Dächern von Nizza“ küssten – sie liegt direkt unter der berühmten Kuppel an der Vorderseite des Belle-Époque-Gebäudes und bietet einen atemberaubenden Meerblick.

„Es fühlt sich so magisch an, an einem Ort mit so altem Hollywood-Glamour und so viel Geschichte zu übernachten“, erzählt die 36-Jährige auf ihrer Website von den letzten Filmfestspielen in Cannes.

Das Hotel Carlton in Cannes wurde 1911 eröffnet.

Ja, Glamour und Geschichte, davon hat die Côte d'Azur reichlich zu bieten. Berühmte Persönlichkeiten – Adelige, Schauspieler, Künstler, Schriftsteller prägen den Mythos der Côte d'Azur bis heute. Den Anfang machen im 19. Jahrhundert Aristokraten aus England, die auf Empfehlung des britischen Politikers Henry Peter Brougham kommen. Der verliebt sich 1834 in die bis dahin international unbekannte Gegend, baut eine Villa und lädt die englische Elite ein.

Zarin Alexandra Feodorowna, die Frau von Zar Nikolaus I., trägt wesentlich dazu bei, die azurblaue Küste, die seit dem 1887 veröffentlichten Buch „La Côte d'Azur“ von Stéphen Liégeard endlich einen Namen hat, unter russischen Aristokraten bekannt zu machen.

Sie reist erstmals in den 1850er-Jahren nach Nizza, um sich im milden, mediterranen Klima von ihrer chronischen Bronchitis zu erholen.

Das Mittelmeer ist für die High Society damals nur schöne Kulisse. Darin baden entspricht nicht der strengen Etikette. Die Saison dauert von Oktober bis Mai, denn die Gäste machen keinen Sommerurlaub, sondern kommen, um zu überwintern und ihre Krankheiten auszukurieren. Besonders die Zarenfamilie besucht den Süden Frankreichs regelmäßig, um den kalten Monaten in Russland zu entfliehen. Sie residiert mit ihrem Gefolge u. a. im Hotel du Cap-Eden-Roc in Antibes, einem der berühmtesten Luxushotels an der Côte d'Azur.

Das Hotel du Cap-Eden-Roc in Antibes gilt noch heute als eines der besten Ferienhotels der Welt.

„Die Romanows kamen so oft, dass sie ihre Sachen in großen Koffern dagelassen haben. Die wurden dann auf dem Speicher aufbewahrt“, erinnert sich Yolande Blazeix Sella, Enkelin des damaligen Hoteliers Antoine Sella, in einer ARTE-Reportage. „Als kleines Mädchen hat mein Vater mir diese großen Koffer gezeigt. Darin war eine fabelhafte Garderobe mit Perlen, Juwelen, Diademen.“ 1918 ermorden die Bolschewiki die gesamte Zarenfamilie in Jekaterinburg während der Russischen Revolution. Als jahrelang niemand Anspruch auf das zurückgelassene, wertvolle Gepäck erhob, spendet Familie Sella es dem Roten Kreuz.

Nach dem Ersten Weltkrieg ändert sich die Klientel, nicht nur im Hotel du Cap-Eden-Roc, sondern an der gesamten Côte d'Azur. Nun kommen vornehmlich reiche Bürgerliche, aus Europa, besonders aber aus Amerika. Sie zelebrieren ein neues Lebensgefühl, das die strenge Etikette der Aristokratie verpönt. Angesagt sind Freizügigkeit, nackte Haut und Liebesaffären. Zentrale Persönlichkeiten der Bohème in den 1920er-Jahren sind Sarah und Gerald Murphy. Das US-amerikanische Paar erfindet das Strandleben, feiert Kostümpartys am Meer und trifft sich zum Picknick mit Künstlern und Kreativen.

Gerald und Sara Murphy, Erfinder des "Strandlebens" an der Côte d'Azur. (Aufnahme von 1923)

Zum engeren Kreis der Murphys zählt Pablo Picasso, der mit der Balletttänzerin Olga Khokhlova verheiratet ist und eine Affäre mit der 28 Jahre jüngeren, erst 17 Jahre alten Marie-Thérèse Walter pflegt.

Die Präsenz des Malers macht die Region zu einem Hotspot für Künstler und Schriftsteller, darunter Henri Matisse, Marc Chagall und Ernest Hemingway. Die Kunstszene trifft sich nicht nur an den Stränden, sondern auch im Gasthaus La Colombe d’Or in Saint-Paul-de-Vence nahe Nizza.

Ins Restaurant La Colombe d’Or geht man nicht nur wegen der Küche, sondern auch, um Originale von Picasso und anderen berühmten Künstlern zu bewundern.

Paul Roux hat es 1920 zusammen mit seiner Frau gegründet, heute befindet es sich noch immer in Familienbesitz und wird in der dritten Generation weitergeführt. „Mein Großvater malte auch selbst“, erzählt Enkel François dem Fernsehsender ARTE. „Während des Krieges lernte er Matisse kennen, nach dem Krieg dann Picasso. Er kaufte Bilder, und die Künstler haben auch oft Bilder dagelassen – als Geschenk.“ Bis heute schmücken Werke der ganz großen Künstler des 20. Jahrhunderts die Wände des Restaurants und machen es zu einem lebenden Museum.

Zurück zu den Murphys: Als die Saison im Mai wie üblich enden soll, erreicht das Paar, dass das Hotel du Cap-Eden-Roc geöffnet bleibt und viele der illustren Gäste nicht abreisen. Und so erlebt die Côte d'Azur 1923 ihre erste Sommersaison. Inspiriert von der Sonne und dem Meer befreit Designerin Coco Chanel, die ebenfalls zum Freundeskreis der Murphys zählt, die Frauen von unbequemen Badekorsetts und revolutioniert die Mode mit Strandpyjamas. In einer Zeit, in der Hosen für Frauen noch als unkonventionell gelten, bricht Chanel mit Traditionen und macht das neue Outfit gesellschaftsfähig.

Unkonventionell: im Strandpyjama ans Meer.

Eine weitere Moderevolution, die zugleich eine gesellschaftliche ist, ereignet sich Jahrzehnte später in St-Tropez. Regisseur Roger Vadim sucht sich das unbekannte Fischernest als Drehort für seinen Film „Und ewig lockt das Weib“ aus. In dem für die damaligen prüden Zeiten freizügigen Kinofilm spielt Sexsymbol Brigitte Bardot die Hauptrolle. Sie verkörpert als „Femme fatale“ ein neues Frauenbild: ungezwungen, unabhängig und provokativ. Was passt dazu besser als der einige Jahre zuvor erfundene Bikini, der bis dato aus moralischen Gründen verboten war?

Verpflegt wird die Filmcrew an der Plage de Pampelonne, etwa fünf Kilometer südlich von St-Tropez. Heute befindet sich hier einer der angesagtesten Strandclubs der Welt, benannt nach dem Gründungsjahr: Club 55. Damals gibt es noch keine Küstenstraße, keine Steinhäuser, keine Hotels oder Gastronomie. Diese Abgeschiedenheit gefällt Familie de Colmont, und so kauft sie sich ein Stück Land direkt am Strand und baut 1953 drei Hütten darauf. Während die Familie einen ungezwungenen Sommer am einsamen Strand verbringen möchte, taucht der Regisseur höchstpersönlich bei ihnen auf. Er glaubt, eine der einfachen Hütten mit den Tischen und Bänken davor sei ein Restaurant, und erzählt, dass er hier mit 80 Leuten einen Film drehen wird – eben jenen Kultfilm mit Brigitte Bardot. „Er fragte: ‚Können Sie für alle kochen?‘“, erinnert sich der heutige Eigentümer Patrice de Colmont an die Szene. „Meine Mutter, die vor nichts Angst hatte, sagte: ja, natürlich!“ Das ist die Geburtsstunde des Club 55.

Auf die Filmcrew folgt alles, was Rang und Namen hat: Politiker wie François Mitterrand und Michail Gorbatschow, Schauspieler wie Catherine Deneuve, Clint Eastwood und George Clooney, Musiker wie Paul McCartney und Bono. „Es ist einfacher, wenn ich sage, wer noch nicht da war“, meint Patrice de Colmont gegenüber der Zeitung Kurier und lacht. „Der Papst war noch nicht da. Falls er doch da war, habe ich ihn nicht gesehen.“ Die Speisekarte ist entsprechend exklusiv: Loup de Mer (Seebarsch), fangfrisch und auf Holzkohle gegrillt, kostet um die 70 Euro. Wer ein einfaches Gericht wie Omelett bevorzugt, blättert um die 30 Euro hin.

Patrice de Colmont, Eigentümer des Club 55

Dass die Côte d'Azur nicht ausschließlich eine Urlaubsdestination für die ganz Reichen ist, verdankt sie dem Tourismus-Pionier Thomas Cook (1808–1892). In den 1860er-Jahren stellt der Engländer fest, dass neben dem Adel auch das „normale“ Volk Interesse an Reisezielen wie Nizza, Cannes und Monaco zeigt. Er bietet britischen Urlaubern Pauschalreisen an, mit festgelegten Routen und Preisen. Sein Geschäftsmodell beeinflusst maßgeblich die Entwicklung der Infrastruktur. Zusammen mit den Eisenbahngesellschaften organisiert er Sonderzüge, die die Gäste zunächst nach Dover und nach der Fährüberfahrt weiter zur Côte d'Azur bringen. Neue Hotels und Pensionen entstehen neben den Luxushotels, um die wachsende Zahl von Touristen zu beherbergen.

Und dennoch: Ihren glamourösen Ruf verdankt die azurblaue Küste nach wie vor der gut betuchten Prominenz. Prunkvolle Villen, zum Beispiel am Cap d’Antibes, millionenteure Yachten in den Häfen von Cannes und St-Tropez und High-End-Hotels, die sich wie Perlen an einer Kette an den berühmten Promenaden aneinanderreihen, zeugen davon. Luxus-Labels bieten teure Wellnesserlebnisse in Hotels an, wie das 2023 eröffnete Dior-Spa im Hotel du Cap-Eden-Roc. Ihre Kollektionen warten in Nobel-Shops auf zahlungskräftige Kunden – oder inzwischen auch am Strand. Marken wie Loro Piana, Christian Dior, Dolce & Gabbana oder Gucci designen ganze Strandabschnitte – von Liegestühlen über Sonnenstühle, Kissen und Handtücher – und bieten ausgewählte Kleidungsstücke und Accessoires in Pop-up-Stores an.

Romantisch beleuchtet: der Hafen in der Altstadt von Cannes.

Wo die Reichen und Schönen sind, lohnt es sich auch, Spenden zu sammeln. Jedes Jahr während der Filmfestspiele von Cannes findet die amfAR Gala (American Foundation for AIDS Research) statt, eine der bekanntesten und erfolgreichsten Wohltätigkeitsveranstaltungen der Welt. Seit ihrer Gründung 1985 wurden mehr als 260 Millionen US-Dollar für die AIDS-Forschung gesammelt. Stars aus Film, Mode und Musik zählen zu den Gästen:

2024 zu Gast bei der amfAR Gala: Heidi Klum und Tochter Leni (links).

Leni und Heidi Klum, Leonardo DiCaprio, Paris Jackson, Nicole Kidman, Madonna, Elton John und viele mehr. Auch die deutsche Influencerin Leonie Hanne ist regelmäßig auf dem roten Teppich der Spendengala zu sehen und nimmt ihre 4,8 Millionen Follower auf Instagram und 1,7 Millionen Fans auf TikTok mit nach Cannes. Die Côte d'Azur ruht sich nicht auf ihrem Mythos aus, sondern ist längst im 21. Jahrhundert angekommen.