Der Blues der Griechen
Es ist dann doch sehr schnell voll geworden, kein Tisch mehr frei, die allermeisten Stühle besetzt, jeder redet mit jedem, aber als der Wirt Ouzo und Eis neben die Mikrofone stellt, wird es schlagartig still. Der Bouzoukispieler und der Gitarrist kommen als erste auf die Bühne, anschließend der Geiger, zum Schluss die Sängerin mit ihrer Kanun, der orientalischen Kastenzither, die auf die Oberschenkel gelegt und mit Plektren gezupft wird, die man wie Fingerhüte trägt. Und dann? Braucht es bloß drei, vier Takte, und das Quartett hat den Raum in seinen Bann gezogen. Die Bouzouki zirpt, die Geige schluchzt, und die Sängerin beschwört ihren Geliebten, sie nicht zurückzulassen in diesem Zimmer in dieser Gasse in diesem elenden Leben: Nimm mich mit! Schon beim ersten Refrain stimmen die meisten im Publikum ein, jeder hier kennt die Melodie, fast alle die Verse: Nimm mich mit, Liebster, hole mich raus aus dieser Stadt, führe mich fort in eine bessere Zukunft! Als das Lied zu Ende ist, jubelt das Publikum. Die Sängerin aber sieht trotz ihres Lächelns für einen kurzen Moment traurig aus. Als wisse sie, dass das Flehen der Frau am Ende vergebens gewesen ist. Als sei das Lied nicht Generationen alt. Als sei es erst gestern für sie selbst geschrieben worden.
Willkommen auf Syros! Willkommen beim Rebetiko-Festival, einer fünftägigen Hommage an die vielleicht wichtigste griechische Musikform, schwermütig klingende, sehnsüchtig gesungene Lieder, die viele Nicht-Griechen gerne als Blues der Griechen bezeichnen.
Was einem Rebetiko-Experten wie Antonis Maragkos eigentlich überhaupt nicht passt, aber natürlich doch irgendwo stimmt – dazu später mehr. Maragkos jedenfalls ist Gründer des Festivals auf der Kykladeninsel. 2010 hat er es ins Leben gerufen, seitdem führt es jeden Sommer Künstlerinnen und Künstler zusammen, Fans und Neugierige, Einheimische und Touristen.
Musik griechischer Einwanderer
Der Rebetiko entstand vor gut hundert Jahren in Athen. Während des griechisch-türkischen Kriegs hatten Truppen unter der Führung von Kemal Atatürk 1922 Smyrna (das heutige Izmir) überrannt und hunderttausende Griechen zur Flucht gezwungen; nach dem Frieden von Lausanne machten sich weitere anderthalb Millionen aus Kleinasien auf den Weg. Viele landeten in Athen, mit wenigen Habseligkeiten und großen Hoffnungen, mit Seelen voller Schrammen und Verzweiflung in den Herzen. In den Kaschemmen und Haschhöhlen der Elendsquartiere vermischte sich die wehmütige Musik der Gestrandeten schon bald mit den Liedern jener Athener, die hier schon länger ein Leben am Rande der Existenz führten. Aus dieser Melange entwickelte sich dann jene melancholische Musik, die wir heute Rebetiko nennen.
„Rebetiko wurde aber nicht nur in Athen gespielt“, sagt Maragkos – die Lieder seien auch auf den Inseln gesungen worden. „Im Hafen von Syros sind damals zehntausend Geflüchtete gelandet. Auch hier herrschte bittere Armut, auch hier wussten die Menschen nicht, was mit ihnen werden würde, auch hier lebten viele von der Hand in den Mund.“ Und obwohl eigentlich alle weiter wollten auf das Festland, blieben viele Griechen aus Kleinasien auf der Insel hängen. Auch deshalb passe ein Rebetiko-Festival sehr gut zu Syros, meint der Festivalorganisator, die Musik sei schließlich Teil der Inselgeschichte.
Und um was geht es in dieser Musik, die seit 2017 zum Immateriellen Weltkulturerbe der UNESCO gehört? Rebetiko schildert das Leben in den überfüllten Städten, die Sorgen und Nöte, die Armut, aber auch die Liebe, das kurze Glück und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft. In den alten griechischen Volksliedern ging es immerzu um Revolutionen und Freiheitskämpfe – der Rebetiko aber wollte nichts wissen von heroischen Schlachten berühmter Generäle: Er handelte von den fiesen Kämpfen des Alltags. „Die Komponisten des Rebetiko waren Reporter ihrer Zeit“, hat Maragkos in einem Radiointerview anlässlich seines Festivals gesagt. „Sie hielten alles fest, was zum Alltag gehörte: die Berufe, die Viertel, die Tavernen, die kleinen Läden. Sie machten Kunst aus dem Gewöhnlichen. Es gibt Lieder über Schuhmacher, Gemüsehändler, Metzger und den Kastanienverkäufer. Oder über jemanden, der nur einen dünnen Mantel besitzt und nicht weiß, wie er damit durch den Winter kommt.“
Rebetiko-Revival
Dass diese Musik in letzter Zeit ein erstaunliches Revival erlebt hat, ist Leuten wie Antonis Maragkos zu verdanken – und den Umständen. Noch vor wenigen Jahren wurde kaum noch Rebetiko gespielt. Hier und da gab es eine Hafenkneipe, in der man den alten Musikstil hören konnte – ansonsten klangen aus den Liveclubs der Kykladen Pop und Dance und House und natürlich jener Sirtaki, den Mikis Theodorakis einst für den Film „Alexis Zorbas“ komponierte und den viele Touristen bis heute für den Inbegriff griechischer Musik halten. Dann aber kam die Staatsschuldenkrise: Löhne wurden gekürzt, Renten pulverisiert, Lebensmittelpreise und Arbeitslosenquote stiegen so schnell wie der Absatz verschreibungspflichtiger Antidepressiva.
In den Städten konnten immer mehr Menschen ihre Mieten nicht mehr bezahlen und zogen auf die Straße. Es waren die Jahre, in denen die Griechen jeden Trost gebrauchen konnten. Es waren die Jahre, in denen der Rebetiko plötzlich wieder erklang. Er ist immer noch da. Und es sieht ganz danach aus, als sei er gekommen, um zu bleiben.
Ganz bestimmt, meint Maragkos: und wie! Sein Festival wird immer größer. Vor zwei Jahren hat er es den Frauen des Rebetiko gewidmet – eine Botschaft an die immer noch stark männerdominierte Kunstszene Griechenlands. Künstlerinnen wie Anatoli Mariola, Evi Vaxevanou und Aggelga Panikola kamen nach Syros und begeisterten mit ihrer Musik. Wie früher, meint Maragkos: Schon in der Goldenen Ära der Musik, in den 1930er- und 1940er-Jahren, habe es Frauen gegeben, die Rebetiko spielten. „Griechenland war damals wesentlich stärker patriarchalisch geprägt als andere europäische Länder. Für Musikerinnen war es unglaublich schwer, aber trotz der restriktiven sozialen Rahmenbedingungen haben sich einige von ihnen durchgesetzt. Haben sich nicht von ihren Männern zuhause einschließen lassen. Sind raus ins Leben. Sind auf die Bühnen.“
Melange aus Orient und Okzident
Musikgeschichtlich gesehen ist der Rebetiko übrigens ein wunderbares Beispiel dafür, wie unterschiedliche kulturelle Einflüsse innerhalb kurzer Zeit zu einem neuen, harmonischen Ganzen zusammenfinden können. Als der Stil vor hundert Jahren in den Slums von Athen entstand, vermischten sich Orient und Okzident, verschmolz die osmanische Musiktradition mit den Dur- und Mollskalen der griechischen Volksmusik. Und obwohl der Rebetiko damals von der Gesellschaft als Musik der Spitzbuben und Kiffer abgestempelt wurde, gelang ihm der Sprung aus der Subkultur in den Mainstream. Schnell wurde er zum gemeinsamen Klang der weltumspannenden griechischen Diaspora. Die ersten Rebetiko-Schallplatten wurden in den USA aufgenommen.
Übrigens: Man muss die Texte nicht unbedingt verstehen, um die Musik zu verstehen. Rebetiko hat etwas Tröstliches, auch wenn man außer „Efcharistó!“ und „Kaliméra!“ kein einziges Wort Griechisch beherrscht. Die Musik ist wie eine wärmende Decke, die sich einem an einem kühlen Herbstabend auf einer Kykladeninsel um die Schultern legt, wenn die Sonne untergegangen ist und der kalte Meltemi in Böen vom Meer gezogen kommt. Vielleicht macht ihn genau das auch für die vielen jungen Leute attraktiv, die ihn auf Syros (und anderswo in Griechenland) spielen lernen. Für sie ist die alte Musik ein Rückzugsort in einer Gegenwart, die aus den Fugen geraten zu sein scheint. Eine Kraftquelle. Eine Form von Trost.
Auch 2026 soll es Ende August wieder ein Rebetiko-Festival geben. Die Konzerte sind erneut an unterschiedlichen Locations in Ano Syros geplant, in Tavernen, Kafénions und auf kleinen Plätzen. Antonis Maragkos hat historische Grammophon-Aufnahmen gesammelt, die vor etwa hundert Jahren an genau diesen Orten aufgenommen wurden. Die will er abspielen, bevor die Konzerte beginnen. Spätestens dann wird kein Stuhl mehr frei sein. Einige werden mitsingen, andere stumm ihre Lippen zu den Versen bewegen, viele werden die Augen geschlossen haben. Als würden sie so ein besseres Leben sehen, und eine bessere Zukunft, und eine bessere Welt.
Einen Eindruck von der Kraft des Rebetiko vermittelt dieses Konzert des Kompanía Trios, gespielt im Matrix Rotterdam im Oktober 2021: