Blaues Wunder

Über Jahrzehnte galt der Journalist und Autor Klaus Bötig als bester Kenner der griechischen Inselwelt. Er beherrschte die Landessprache, hatte selbst die kleinsten Eilande irgendwann einmal besucht und über hundert Reiseführer veröffentlicht. Dann bekam er von einem renommierten Magazin den Auftrag, nach Ikaria zu reisen, um dort alte Menschen zu interviewen. Richtig alte Menschen.

Der Journalist Klaus Bötig (1948-2025) kannte sich auf den griechischen Inseln hervorragend aus.

Die Insel gehört zu den weltweit fünf „Blue Zones“ – das sind Regionen, in denen außergewöhnlich viele Menschen außergewöhnlich alt werden. Ikaria wird deshalb auch die „Insel der Hundertjährigen“ genannt, und die versuchte Bötig zu finden. Zusammen mit einer Fotografen-Crew klapperte er die Inselorte ab, wurde von Pontius zu Pilatus geschickt, klopfte an Türen, stieg über Ziegengatter und verzweifelte allmählich: Zwar schien jeder auf der Insel einen der alten Leute zu kennen – bloß hatten die alten Leute keine Lust, über ihr Alter zu sprechen. Sie hätten in den letzten Jahren zu viele Interviews gegeben, ließen sie durch ihre Enkel oder Urenkel ausrichten, oder müssten Mittagsschlaf halten, oder seien zu einer Geburtstagsfeier eingeladen, nein, danke, ein Gespräch sei leider nicht möglich. Zu erzählen hätten sie sowieso nichts.   

Die „Insel der Hundertjährigen“

Ikaria liegt in der östlichen Ägäis, bis Mykonos sind es gut 80 Kilometer, bis nach Samos knapp 20. Es ist mit seinen gut 250 Quadratkilometer so groß wie Malta (oder Frankfurt am Main), hat 9000 Einwohner und war bis vor wenigen Jahren vor allem durch seinen Namensgeber bekannt, den ersten Flugreisenden der Weltgeschichte: Der Sage nach stürzte Ikarus vor der Insel ins Meer, weil er mit seinen Flügeln der Sonne zu nahe gekommen war. 2011 macht Ikaria dann plötzlich aus einem ganz anderen Grund Schlagzeilen: Da hatten Wissenschaftler festgestellt, dass der Anteil der über 90-Jährigen auf der Insel deutlich höher lag als im europäischen Durchschnitt. Ikaria wurde zur „Blue Zone“, wie zuvor schon Okinawa, Sardinien, Costa Ricas Nicoya-Halbinsel und das kalifornische Loma Linda. Ikaria war nicht länger eine kleine Insel in der Ägäis: Es war – in leichter Abweichung von den tatsächlichen Untersuchungsergebnissen – zur „Insel der Hundertjährigen“ geworden.

Und wie schafften es die Menschen auf Ikaria, so alt zu werden? In der „Study of Ikaria“ lieferten die Forscher detaillierte Gründe, die der Journalist Dan Buettner später in einer Reportage für die New York Times populärwissenschaftlich aufhübschte („The Island Where People Forget to Die“ löste den Medienrummel aus, der vielen auf Ikaria dann irgendwann zu viel wurde). Natürlich spielt die Ernährung eine ganz wichtige Rolle. Die Menschen auf Ikaria essen weder Superfoods noch irgendwelche Nahrungsergänzungsmittel, sondern ausschließlich das, was ihnen ihre Insel bietet: haufenweise Linsen, Bohnen und Kichererbsen, Fisch nur manchmal, rotes Fleisch so gut wie nie, Olivenöl täglich.

Ein Faktor für ein langes Leben: die gesunde Mittelmeerküche.

Außerdem werden zum Kochen traditionell über fünfzig (!) oft bittere Wildgemüse verwendet, was anderswo in der Ägäis offenbar deutlich seltener geschieht. All das senke „die Rate schwerer kardiovaskulärer Ereignisse“, heißt es in der Studie. Anders gesagt: weniger Herzinfarkte, weniger Schlaganfälle. Getrunken wird übrigens viel Kräutertee aus wildem Oregano, Rosmarin, Salbei oder Löwenzahn, alles Pflanzen mit entzündungshemmender Wirkung, die sich auch günstig auf Blutdruck und Stoffwechsel auswirken. Kaffee wird langsam gekocht und mehrmals täglich aus kleinen Tassen getrunken. Nicht als Wachmacher, sondern eher als Ritual. Zusammen mit anderen.

Dorffeste und Familienbande

Überhaupt sind Ikarias Alte nie allein, sondern fester Teil der Gemeinschaft. Etliche Stunden des Tages sitzen sie zusammen mit anderen auf dem Dorfplatz und diskutieren über Gott und die Welt und wie das war, damals, 1718, als die Piraten vor der Insel kreuzten, oder 1947, als Mikis Theodorakis während des Bürgerkriegs auf ihre Insel verbannt wurde (für viele Griechen ist Geschichte kein langer, ruhiger Fluss, sondern ein selbstverständliches Nebeneinander von Vergangenheit und Gegenwart, ein von den Zeitläuften losgelöstes Kafénion, in dem Perikles, Ursula von der Leyen und der kommunistische Inselbürgermeister Fanourios Karoutsos gemeinsam die EU-Politik erörtern ...). Ikaria ist eine Insel des Miteinanders: Nachbarschaften, Dorffeste und die Familienbande bilden ein Netz, das den Einzelnen auffängt, bevor Einsamkeit und Isolation zum Krankmacher werden können.

Einsamkeit ist auf Ikaria ein Fremdwort.

Ikarias Alte helfen im Garten, hüten Ziegen, erzählen Geschichten, werden gehört. In westlichen Ländern gilt Einsamkeit als wichtiger Auslöser für Demenz. Auf Ikaria scheint diese Krankheit nur selten aufzutreten.

Und natürlich ist Bewegung ein wichtiger Faktor auf der „Insel der Hundertjährigen“. Die steilen Inselhänge, die verschachtelten Dörfer und die terrassenartig angelegten Felder an den Gebirgshängen zwingen die Menschen zu permanenter, anstrengender Bewegung: Treppen steigen, Ziegen hinterherlaufen, Holz für den Herd sammeln. Was in der Forschung unter move naturally firmiert, ist auf Ikaria unabdinglich. In der „Ikaria Study“ gaben neun von zehn Männern (und sieben von zehn Frauen) über 80 Jahren an, täglich zu Fuß unterwegs zu sein. Außerdem halten Ikarias Alte regelmäßig Mittagsschlaf. Die Siesta ist fester Teil des Tagesablaufs. Sie reduziert den Stresspegel und senkt das Risiko für Herzkrankheiten.

So unbestritten wichtig all diese Faktoren für ein gesundes Älter- und Altwerden auch sind – am Status der Insel als „Island Where People Forget to Die“ gibt es mittlerweile Zweifel. Der australische Forscher Saul Justin Newman hat am University College London die Datenbasis der „Blue Zones“ generell in Frage gestellt (die übrigens so heißen, weil Wissenschaftler die Orte auf einer Landkarte einst mit einem blauen Filzstift umkringelt hatten). Tatsächlich deuten seine Analysen darauf hin, dass veröffentlichte Altersangaben in etlichen Fällen nicht stimmen. Mal fehlen Geburtsurkunden, mal sind Behördenregister fehlerhaft, mal hat es den Anschein, als „lebten“ Hundertjährige nur deshalb noch, weil ihre Enkel weiterhin die Renten der Großeltern bezogen. Newman nennt die „Blue Zones“ deswegen „eine Art statistische Fata Morgana“. Bei seinen Nachforschungen über die „Blauen Zonen“ hinaus entdeckte er unter anderem, dass in Großbritannien nur etwas mehr als ein Prozent der tausend ältesten Menschen ihr Geburtsdatum auch tatsächlich nachweisen konnten. In Japan waren 82 Prozent der Über-Hundertjährigen nicht auffindbar. Und in Griechenland bezogen offenbar über 9000 Über-Hundertjährige eine Rente. Landesweit lebten aber bloß 2488 Menschen dieses Alters.

Geschäftsmodell „Blue Zones“

Neben der seriösen Blue-Zones-Forschung hat sich übrigens längst auch ein äußerst erfolgreiches (und möglicherweise nicht ganz so seriöses) Geschäftsmodell entwickelt. Nach dem Erfolg seines New-York-Times-Artikels hatte sich Dan Buettner die Markenrechte an dem Begriff gesichert und die Welt mit einem Dutzend Bestseller beglückt („Blue Zones Kitchen“, „Blue Zones Challenge“, „Blue Zones Solution“, „Blue Zones Lessons“ usw.) Bei Netflix lief eine mehrteilige Doku.

Es gibt Blue-Zones-Kochkurse, Blue-Zones-Retreats und natürlich Blue-Zones-Nahrungsergänzungsmittel. Städte und Unternehmen können sich von Buettners Firma beraten und als „Auf-dem-Weg-zur-Blue-Zone“-Community zertifizieren lassen. Über all das würden sie auf Ikaria sicherlich nur die Köpfe schütteln. Beim Schwatz und einem Tässchen Kaffee, auf dem Dorfplatz.

Und wie viele Hundertjährige leben dort nun tatsächlich? Die griechischen Zensusdaten geben darüber keinerlei Auskunft. Klaus Bötig jedenfalls hat am Ende doch noch einen der Alten interviewen können: Der Mann betrieb ein Kafénion in einem Bergdorf. Die Redaktion war später allerdings nicht so richtig zufrieden mit dem, was der alte Grigoris über sich und das Altsein auf Ikaria zu erzählen hatte.

Einwohner Ikarias: 100 Jahre alt, 20 Zigaretten täglich – und das seit 70 Jahren.

Einen Großteil seiner kargen Rente gab er nämlich für Zigaretten aus. Und überhaupt brauche man auf einer Insel mit so schlechter medizinischer Versorgung viel Glück, um auch nur das Rentenalter zu erreichen, klagte er. Ansonsten müsse man vor allem schlafen, wenn man müde sei, und essen, was die Natur so hergebe. Für alles andere habe er sowieso nie Geld gehabt.