Schatzsuche mitten in London
Mudlarks fahnden am Ufer der Themse nach Zeugen aus der bewegten Vergangenheit Londons.
Hätte ich die alte Planke irgendwo am Rhein oder an der Mosel gefunden: Ich wäre stolz und glücklich mit ihr im Kofferraum nach Hause gefahren und hätte meinen Schatzsuchertag gleich wieder beendet. Das Stück Holz lag aber an der Themse in London, keine zwanzig Schritte von der Treppe entfernt im Uferkies. Es war vielleicht zwei Meter lang und leicht gebogen, auf den ersten Blick sah es aus wie ein gewöhnliches Brett. Wenn da nicht die rostigen Nägel gewesen wären. Die waren schief und krumm und hatten große, unregelmäßige Köpfe – so sehen Nägel nicht mehr aus, seit sie industriell hergestellt werden. Diese Nägel waren alt, ziemlich alt, und sie steckten in einer ebenso alten Schiffsplanke. Ich hob sie auf, das nasse Holz war schwer wie Blei. Abgeschliffen und gewachst hätte sich die alte Planke zu Hause wunderbar als Kerzenständer auf dem Wohnzimmertisch gemacht. Leider lag sie nicht an Rhein oder Mosel, sondern an der Themse in London. Wo ich sie dann auch ließ.
Ich habe Schätze gesucht. Ein paar Tage lang. Mitten in London. Die Themse hat hier einen Tidenhub von bis zu sieben Metern. Als Besucher achtet man normalerweise ja nicht auf solche Dinge, schon gar nicht in einer Stadt wie London, aber: Mit jeder Flut werden hier Dinge an Land gespült, die der Fluss lange Zeit für sich behalten hat. Schiffsplanken, Knöpfe, Scherben oder Ringe, die irgendwann von Fingern glitten – all das kann man am Ufer der Themse finden. Man braucht bloß Zeit, Geduld und eine Lizenz von der Hafenbehörde Port of London Authority. Meine ist drei Jahre gültig und hat 90 Pfund gekostet. So lange kann ich mich bei jedem Besuch in London in einen Mudlark verwandeln. So nennt man Leute, die im Schlamm des Flusses nach Dingen aus der Vergangenheit suchen.
Nasses Archiv der Vergangenheit
Und von Vergangenheit hat London reichlich. Die Römer haben die Stadt gegründet, 47 nach Christus war das vermutlich, und in den Jahrhunderten und Jahrtausenden danach wuchs die kleine Siedlung allmählich zur Weltmetropole heran. Von Anfang an spielte sich ein Großteil des Lebens an den Ufern der Themse ab – der Fluss hat London reich und mächtig gemacht. Zweitausend Jahre lang wurden hier Schiffe be- und entladen, brachten Kapitäne Waren aus aller Welt oder ließen ihre Segelschiffe mit Gütern beladen. Zweitausend Jahre lang gingen hier aber auch Dinge verloren und fielen ins Wasser. Und beinahe ebenso lange wurde in die Themse geworfen, was man nicht mehr brauchte. Vieles ist immer noch dort. Manches davon liegt dann bei Ebbe am Ufer. Bis zur nächsten Flut.
Es gibt in der Stadt nicht viele Stellen, an denen man hinunter zur Themse kommt. Auf der Bankside, dem Südufer, führen in der Nähe der Millennium Bridge alte Steinstufen zum Fluss. Die Stelle eigne sich besonders gut für Anfänger, steht in Ted Sandlings „A Mudlark’s Treasure: London in Fragments“. Das ist so etwas wie die Bibel aller Mudlarks. Mein Exemplar stammt aus einer Kiste Reiseführer vom Flohmarkt und verstaubte jahrelang unbeachtet im Regal, bevor ich es vor meiner London-Reise in die Hand nahm. Aus dem Buch weiß ich, dass Mudlarks Regenhose, Gummihandschuhe und Sammelbeutel für ihre Funde brauchen. Eigentlich auch Gummistiefel, aber die passten nicht mehr ins Gepäck. Stattdessen kamen hohe, wasserdichte Wanderschuhe zum Einsatz. Knieschoner gab es auch keine.
Beim Mudlarking komme es darauf an, Unregelmäßigkeiten im Kies zu bemerken, philosophiert Sandling. Beziehungsweise: im Schlamm – wenn nicht gerade Hochsommer ist in London und die Sonne brennt, stapft man während der Ebbe an vielen Uferstellen durch knöcheltiefen Matsch. Man solle sich trotzdem völlig entspannt auf die Suche begeben und versuchen, sich nicht allzu sehr zu konzentrieren, dann verkrampfe man irgendwann. Was einem als Anfänger natürlich schwer fällt, schließlich will man ja was finden. „Achten Sie auf unnatürliche Linien am Boden. Auf Stellen, an denen die Muster der Natur durch Dinge aus Menschenhand unterbrochen werden. Oder auf ein Funkeln und Glitzern.“ Ich muss vor allem auf meine Knie achten. Die schmerzen nach einer halben Stunde derart, dass ich sie am liebsten im Themsewasser kühlen würde.
Tonpfeifen und Langschwerter
Tatsächlich aber liegen sehr schnell mehrere kurze, weiße Rohrstückchen in meinen Gefrierbeuteln. Eine Porzellanscherbe, auf der die Beine eines Pferdes und Jagdhunde zu sehen sind. Und ein merkwürdig geformter Stein, der sich im Hotel später als gläserner Pfropfen einer Flasche herausstellt, den der Lauf der Zeit mit einer Art Kalkmantel überzogen hat. Nach zwei, drei Stunden steigt das Wasser leider schon wieder langsam, und ich werde leider schnell nervös. „Wenn die Flut kommt, sollte man die Suche abbrechen und das Ufer der Themse augenblicklich verlassen“, steht im Mudlarking-Buch. „Denken Sie daran: Die nächste Ausstiegsstelle kann etliche hundert Meter entfernt sein.“
Laut App dauert es bis zum nächsten Wassertiefstand jetzt erst einmal knapp über sechs Stunden (die Tidal-Thames-App gibt es für alle gängigen Smartphone-Betriebssysteme, sie ist für das Hobby ebenso wichtig wie die Knieschoner). Als echter Mudlark verzichtet man in solchen Momenten natürlich auf alle Londoner Versuchungen und bildet sich stattdessen weiter. Im Museum of London sind die wichtigsten Funde ausgestellt, die andere Mudlarks aus dem Schlamm befördert haben. Wikingerhelme, Langschwerter, mittelalterliches Geschmeide, das meiste sieht aus, als sei es gerade vorletzte Woche erst in den Fluss gefallen. Man kann sich nur schwer vorstellen, dass diese Dinge viele Jahrhunderte lang auf dessen Grund lagen. Und auch nicht, was das für ein Gefühl sein muss: Da ist jemand aus der U-Bahn gestiegen und hinunter zum Fluss gelaufen, und während in den Pubs ein paar Meter über ihr oder ihm die Premier League auf Plasmabildschirmen gezeigt wurde, hat sie oder er unten an der Themse eine Brosche aus der Wikingerzeit aus dem Schlamm gezogen.
Findet ein Mudlark etwas, das von wissenschaftlicher Relevanz sein könnte, ist er verpflichtet, den Fund beim zuständigen Finds Liaison Officer im Museum of London zu melden. Das Königreich verlassen dürfen selbst kleinere Stücke nicht. Röhrchen, wie ich sie gefunden habe, sind im Museum übrigens auch zu sehen. Es sind keine Knochenstücke, sondern zerbrochene Stiele alter Tonpfeifen. Als Schiffe aus der Neuen Welt Mitte des 16. Jahrhunderts den ersten Tabak nach London brachten, wurden diese billigen Pfeifen massenhaft hergestellt. Zerbrachen sie, warfen die Raucher sie weg. Mit der Zeit sind Hunderttausende im Fluss gelandet.
Die Mudlark-Szene ist keine große; vermutlich sind in Londons Zentrum nicht mehr als 40 oder 50 Leute regelmäßig aktiv. Fast alle kommen aus der Stadt oder der näheren Umgebung, fast alle verbringen jede freie Minute am Fluss, rain or shine, bei Wind und Wetter. Wenn die populären innerstädtischen Uferabschnitte – wie im Moment gerade – wegen offizieller archäologischer Grabungen gesperrt sind, suchen die Mudlarks außerhalb der Stadtgrenzen. Die Szene gilt als eigenbrödlerisch und verschwiegen; wer seine Funde permanent in den sozialen Netzwerken präsentiert, macht sich keine Freunde. Die meisten Mudlarker verstehen sich als Archäologen und melden wichtige Funde umgehend. Aber natürlich gibt es auch schwarze Schafe.
Und dann ist auch schon wieder Ebbe! Mudlarking kann süchtig machen, steht in „A Mudlarks’s Treasure“, und das geht tatsächlich ganz schnell. Das Gefühl, dass da unten am Ufer möglicherweise gerade etwas im Schlamm liegt, was seit hunderten Jahren im Fluss verborgen war, und dass man es finden kann, wenn man nur an der passenden Stelle sucht – das versetzt einen in eine Art Dauerunruhe. Vielleicht auch, weil man bei jeder gefundenen Kleinigkeit meint, eine Verbindung mit der Vergangenheit herzustellen. Mit den Menschen, denen diese Dinge einst gehörten, mit denen, die sie vor mir zuletzt in den Händen hielten. Wenn ich in London leben würde, wäre Mudlarking mein liebstes Hobby.
So bleibt es erst einmal bei wenigen Einsätzen. Vor der Abreise breite ich meine gesammelten Schätze im Hotelzimmer aus und fotografiere sie. Dann stecke ich sie in meine Beutebeutel, laufe zum Fluss und werfe alles zurück ins Wasser. Irgendwer wird meine Funde finden. Irgendwann, wenn sie erneut ans Ufer gespült werden, in ein paar Tagen oder einigen Jahrhunderten. Und ich werde weitersuchen, bei jedem Besuch in London. Meine Lizenz gilt schließlich drei Jahre.