26.10.2023

Wahrhaft ein Jahrhundertprojekt!

In Sichtweite zu den Pyramiden von Gizeh entsteht seit 2002 das Grand Egyptian Museum, das weltweit größte Museum ägyptischer Kunst und Kultur. Die Welt fiebert seiner Eröffnung entgegen – aber die lässt weiter auf sich warten.

Wahrhaft ein Jahrhundertprojekt!

Unter dem strahlend blauen Himmel von Kairo fährt ein Spezialtransporter im Schritttempo durch die Straßen der Hauptstadt, vor den Augen Tausender Schaulustiger und begleitet von einer Musikkapelle in schicken rot-weißen Uniformen. Sein Ziel: das vor der Stadtgrenze liegende Plateau von Gizeh. Seine Ladung: eine 3000 Jahre alte Kolossalstatue von Ramses II., 12 Meter hoch und 83 Tonnen schwer. Mit viel technischem Aufwand platziert ein Kran die Statue in einem Wasserbecken im Atrium des sich zum damaligen Zeitpunkt – 2018 – im Rohbau befindlichen Grand Egyptian Museums (GEM). Ramses der Große, wie der altägyptische Pharao auch genannt wird, ist die erste von Tausenden Berühmtheiten, die in das GEM einziehen.

Kolossaler Blickfang: die Statue von Ramses II. im Atrium des neuen Grand Egyptian Museum.

Fünf Jahre später ist Ägyptens größte und prestigeträchtigste Baustelle fast fertig. Aber eben nur fast. Ursprünglich sollte das Museum, dessen Grundstein der frühere Präsident Mohamed Husni Mubarak bereits 2002 legte, 2013 und dann 2020 eröffnet werden, was an der Covid-19-Pandemie scheiterte. Das neue Datum, der 4. November 2022, hätte perfekt zum hundertjährigen Jubiläum der Entdeckung des Grabes von Tutanchamun gepasst. Doch auch daraus wurde nichts. Lange stand November 2023 im Raum, bis Antiken- und Tourismusminister Ahmed Issa diesen Termin in einer Pressemitteilung relativierte. Es würden gerade die letzten Arbeiten innerhalb des Museums und in der Außenanlage auf Hochtouren laufen. Mit der Eröffnung sei daher zwischen Oktober 2023 und Februar 2024 zu rechnen. Vorausgesetzt, der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi stimmt zu, nachdem er den fertigen Bau mit seinen 500.000 Quadratmetern und über 100.000 Exponaten begutachtet hat.

Ramses II. auf dem Weg in sein neues Zuhause.

Während so mancher hinter vorgehaltener Hand munkelt, dass finanzielle Probleme die Eröffnung ständig verzögern – die ursprünglich veranschlagten 550 Millionen US-Dollar stiegen mittlerweile auf über eine Milliarde US-Dollar – zeigt Dr. Tarek Tawfik, ehemaliger Generaldirektor des Projekts, volles Verständnis. Die Pyramiden seien ja auch nicht von heute auf morgen gebaut worden, meint er gegenüber dem Nachrichtenmagazin FOCUS. Dann lächelt er süffisant: Und wenn man sich den Berliner Flughafen angucke …

Dr. Tarek Tawfik, ehemaliger Leiter des Projekts GEM, in den Werkstätten des Museums.

Für den Neubau des größten Museums Afrikas und des größten archäologischen Museums der Welt, das nur einer Zivilisation gewidmet ist, fand die umfassendste Architekturausschreibung aller Zeiten statt. Unter mehr als 1500 Teilnehmern aus über 80 Ländern bekommt das irische Büro Heneghan Peng Architects den Zuschlag. Dessen Planung sieht unter anderem vor, dass die Außenwände in einer virtuellen Linie jeweils auf eine der drei Pyramiden zeigen. Die Ausstellungsgestaltung stammt von dem Stuttgarter Atelier Brückner, das sich in einem 12-monatigen Auswahlverfahren gegen viele renommierte Gestaltungsbüros durchsetzt. „In den vergangenen Jahren haben wir große internationale Projekte realisiert“, sagt Geschäftsführerin Shirin Frangoul-Brückner. „Aber noch nie hatten wir die Gelegenheit, Exponate dieser Bedeutung auszustellen. Das ist natürlich eine Chance, aber auch Herausforderung zugleich, die wohl nur einmal im Leben kommt.“ Gewöhnungsbedürftig sei auch gewesen, dass ihnen in den Besprechungen und Präsentationen Generäle der ägyptischen Militärregierung in Uniform gegenübersaßen, „denn normalerweise stammen unsere Kunden aus dem kulturellen Bereich, sind zum Beispiel Museumsdirektoren, die inhaltlich sehr gut Bescheid wissen.“

Im GEM wird es eine Hauptausstellung geben, ein Kindermuseum, eine Bibliothek und ein Kongresszentrum. „Von vornherein war klar, dass das Museum nicht nur touristische Zwecke erfüllen, sondern auch der ägyptischen Bevölkerung als Kultur- und Bildungsort dienen soll“, erläutert Frangoul-Brückner. Unumstrittener Star der Ausstellung aber wird Tutanchamun, der als Kindkönig zwischen 1332 und 1323 vor Christus regierte. Er gilt als berühmtester altägyptischer Pharao, schlicht, weil dank des britischen Archäologen Howard Carter die reich ausgestatteten Grabkammern samt der Totenmaske und der Mumie im kostbaren Goldsarkophag 1922 entdeckt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. In den letzten Jahrzehnten befand sich sein unermesslich wertvoller Grabschatz im Ägyptischen Museum, das 1902 am Tahir-Platz im Herzen von Kairo erbaut wurde. Die angestaubten Holzvitrinen, abblätternde Wandfarbe, muffige Luft und schummrige Beleuchtung sind nur einige Indizien dafür, dass das Museum in die Jahre gekommen ist. Außerdem platzt es aus allen Nähten. Der französische Architekt Marcel Dourgnon plante damals, in dem neoklassizistischen Gebäude auf rund 15.000 Quadratmetern ca. 50.000 Objekte auszustellen. Inzwischen drängen sich dreimal so viele Exponate auf engstem Raum. Der Rest, darunter große Teile aus Tutanchamuns Grabkammern, stapelt sich im Kellergeschoss – unzugänglich für Besucher. Wie viele Schätze der Antike noch gänzlich unerforscht dort unten schlummern, das weiß niemand so genau. Zwischen 2004 und 2010 gab es zwar eine erste Inventur, doch ein Mitarbeiter bemerkte damals scherzhaft: „Wir brauchen hier keine Inventur, wir brauchen eine erneute Ausgrabung.“

Das Große Ägyptische Museum in Gizeh bedeutet eine Chance für die vielen unentdeckten Schätze aus dem Keller, aber auch für Carters Sensationsfund. In einer speziell konzipierten Galerie im obersten Stockwerk werden endlich sämtliche Objekte aus dem Grab Tutanchamuns gezeigt: 5400 Stück – darunter waren mehr als die Hälfte bisher noch nie zu sehen. Die um die 15.000 erwarteten Besucher täglich erreichen die Tut-Galerie vom Atrium aus über eine lange Treppe, auf deren Stufen Skulpturen altägyptischer Pharaonen stehen. „Um die unterschiedlichen Grabbeigaben des Tutanchamun erlebbar zu machen, haben der Auftraggeber und wir uns für einen szenografischen Ansatz entschieden“, erläutert Frangoul-Brückner. „Das heißt, wir schaffen Erlebnisräume, die Geschichte(n) erzählen und Wissen vermitteln. Dafür arbeiten wir mit Raumbildern, Raumambiente und Raumdramaturgien.“

Shirin Frangoul-Brückner, Geschäftsführerin des Stuttgarter Atelier Brückner, das den Zuschlag für die Ausstellungsgestaltung im Grand Egyptian Museum bekommen hat.

Ein fast ausschließlich weibliches Team konzipiert die Ausstellung und setzt sie erfolgreich um. Anfangs gibt es Zweifel, ob dies eine kluge Entscheidung angesichts der Zusammenarbeit mit Generälen eines islamischen Landes ist. Die Chefin von Atelier Brückner zuckt mit den Schultern und meint gelassen: „Sie waren einfach meine besten Leute.“ Nachdem der Auftrag inzwischen abgeschlossen ist, zieht die Libanesin Rana Rmeily, die die grafische Verantwortung im Team trug, eine positive Bilanz: „Natürlich gibt es eine Menge Klischees in Bezug auf die Frauenrolle in den arabischen Ländern; aber das hängt sehr vom jeweiligen Land ab. Ich selbst habe im Libanon nie einen Unterschied zwischen Mann und Frau empfunden. Und vor allem in Ägypten haben Frauen im Laufe der Geschichte eine große Rolle gespielt, von der Antike bis in die Gegenwart. In Summe lässt sich sagen, dass die Zusammenarbeit gut funktioniert hat und für beide Seiten eine neue Erfahrung war.“

Während im neuen Museum die Vorbereitungen auf Hochtouren laufen, bereitet sich das Ägyptische Museum am Tahir-Platz seit Jahren auf den Auszug seiner weltberühmten Exponate vor. Dr. Hala Hassan ist Leiterin der Tut-Abteilung im alten Museum. Sie streicht wehmütig mit ihren behandschuhten Händen ein letztes Mal über ein Exponat, das gut gepolstert in einer Holzkiste verschwindet. „Seit dem Abschluss meines Studiums arbeite ich hier, also seit 36 Jahren“, sagt sie der ARD. „Tut ist wie eines meiner Kinder. Beim Transport jedes einzelnen Stückes habe ich das Gefühl, dass eines meiner Kinder auszieht.“ Den Umzug selbst begleiten hohe Sicherheitsvorkehrungen – angesichts des chaotischen Verkehrs in Kairo eine echte Herausforderung. Im neuen, hochmodernen Conservation Center, das Teil des GEM ist, untersuchen Spezialisten die Neuankömmlinge eingehend, z. B. auf Insekten- oder Pilzbefall. Dann werden sie gegebenenfalls restauriert und fachgerecht bis zur Eröffnung gelagert. Der Grabschatz des Tutanchamun hat mittlerweile alle Kontrollen durchlaufen und ist in der Ausstellung installiert. Diese ist als 370 Meter langer Parcours angelegt. Unter der Decke schimmert eine Konstruktion aus Messing- und Bronzefäden, die von mehreren Lichtquellen angestrahlt wird – der sogenannte „Pfad der Sonne“. Er soll den Weg vom Leben zum Leben nach dem Tod symbolisieren. Auf dem Boden zieht sich ein sieben Meter breites Band aus geschwärztem Stahl durch die Ausstellung – der „Fluss des Lebens“, der die Bühne für das Leben Tutanchamuns darstellt.

Im Conservation Center des Museums werden die Exponate untersucht und gegebenenfalls restauriert.

Die Entdeckung des Grabschatzes, der Bau des Museums und die Ausstellung – für Shirin Frangoul-Brückner ist all das „wahrhaft ein Jahrhundertprojekt!“. Es erfülle sie mit Stolz, dass ihr Atelier ein Teil davon sein dürfe. Bleibt nur noch zu hoffen, dass Besucher aus aller Welt und die Ägypter selbst auch bald Teil dieses Jahrhundertprojektes sind.