26.10.2023

Kairos Parallelwelt

Kairo platzt aus allen Nähten. Mangels Wohnungen haben sich mehr als hunderttausend Menschen auf den Dächern der Metropole angesiedelt. Löst Ägyptens neue Retortenhauptstadt in der Wüste die Platzprobleme?

Kairos Parallelwelt

Mustafa spielt, Flipflops an den Füßen und Baby Laila auf dem Arm, mit seinem sechsjährigen Sohn Fußball. Der trägt ein knallrotes Trikot des FC Liverpool, es reicht fast bis zu den Knöcheln. „M. Salah“ und die Nummer 11 stehen auf dem Rücken – alle „Männer“ der Großfamilie verehren Mohamed Salah, den einzigen ägyptischen Weltklasse-Fußballer. Drei kleine Mädchen rennen kreischend und unter der im Wind flatternden Wäsche einem Huhn hinterher. Es soll als Puppenersatz im rosa Buggy Platz nehmen. Eine Nähmaschine rattert unermüdlich. Mustafas Frau Fatemeh fertigt Pantoffeln, die ihr Mann einmal wöchentlich auf dem Markt verkauft. „Wir wohnen hier wie auf dem Dorf“, sagt er. „Dabei sind wir mitten in einer Millionenstadt.“

Auf den Dächern Kairos leben rund 100.000 Menschen, oft zusammen mit Hühnern oder Ziegen. Selbst Gemüse wird dort angebaut.

Seit drei Generationen lebt Mustafas Familie in Kairo. Sie gehört zu den 100.000 Nubiern, die in den 1960er-Jahren durch den Bau des Assuan-Staudammes aus ihren Dörfern vertrieben wurden. Der damalige ägyptische Staatspräsident Gamal Abdel Nasser ließ nördlich von Assuan zwar neue Dörfer errichten, doch Mustafas Großeltern suchten zusammen mit vielen anderen ihr Glück in der Hauptstadt. 1971 ergatterte der Großvater eine Stelle als Hausmeister in einem mehrgeschossigen Anwesen mitten in der City. Das Flachdach des klassizistischen Gebäudes war von Anfang an als Wohnraum konzipiert – für eine geringe Miete durften die Angestellten der wohlhabenden Hauseigentümer sich und ihren Familien dort eine bescheidene Bleibe errichten und wurden nach und nach an das Strom- und Wassernetz angeschlossen. Mustafas Großvater baute zusammen mit seinen beiden Brüdern notdürftige Bretterverschläge auf dem Dach und deckte sie mit Wellblechen ab – zum Schutz gegen Regen und Sonne. Was als Provisorium gedacht war, hält nun schon, solange Mustafa sich erinnern kann. Er ist vor 30 Jahren hier oben geboren worden.

Wer auf einem Dach in Kairo lebt, genießt immerhin viel Licht und atemberaubende Panoramablicke.

Vor allem in der Abenddämmerung lässt der junge Mann gerne den Blick schweifen, über die umliegenden Häuser. „Die da unten, die sehen doch nur die Straßen und Häuserwände“, sagt er. „Mir wäre das zu dunkel und zu laut.“ Dann erklärt er, was er an seinem Leben auf dem Dach – neben den Sonnenuntergängen – am liebsten mag: „Ich kenne jeden einzelnen Menschen hier oben. Auch die Bewohner der angrenzenden Dächer. Wir sind nicht nur Nachbarn, sondern Familie und Freunde. Wir spielen Brettspiele zusammen, rauchen, essen, diskutieren. Hier ist niemand einsam.“ Mustafa weiß sein Glück zu schätzen, denn seine Eltern haben ein Zimmer für ihn und seine Familie geopfert. Die knapp 15 von insgesamt 30 Quadratmetern teilt er sich mit seiner Frau und den beiden Kindern. Sein jüngerer Bruder Ahmed dagegen ist auf der Suche nach einer Bleibe, denn für eine weitere Familie ist kein Platz mehr. Die Bevölkerung auf den Dächern in Kairos Zentrum ist in den vergangenen Jahrzehnten explodiert – über 100.000 sollen es sein. Neben armen Familien ist hier oben auch die Kairoer Mittelschicht zu Hause, wie Mustafas Cousin Anwar. Der hat studiert und einen Job in einem Architekturbüro. „Ich verdiene gut“, sagt der 38-jährige Familienvater. „Eine Wohnung könnte ich mir leisten, aber es gibt schlicht keine.“

Mit rund 22 Millionen Einwohnern in der Metropolregion „Greater Cairo“ ist Kairo die größte Metropole Afrikas. Aufgrund der hohen Geburtenraten und der zunehmenden Landflucht hat sich die Stadtbevölkerung seit Mitte der 1960er-Jahre verdoppelt. Dieses enorme Wachstum führt unter anderem dazu, dass der reguläre Wohnungsmarkt die steigende Nachfrage nicht mehr stillen kann. Die Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) schätzt, dass 9,5 Millionen Einwohner in informellen Siedlungen wohnen, also in Unterkünften, für die nie eine Baugenehmigung erteilt wurde.

Auf den Dächern schwingt die ständige Angst vor einer Zwangsräumung mit. Die Stadtverwaltung hätte das Recht dazu, aber gegen Bakschisch dulden die Beamten Kairos Luftstadt. „Obwohl ich mein ganzes Leben hier verbracht habe und Miete zahle“, seufzt Mustafa, „habe ich keinen Mietvertrag und kein Recht, hier zu sein. Das ist doch verrückt, oder?“ Anwar klopft ihm beruhigend auf die Schulter. „Sieh dich doch um“, sagt er zu seinem Cousin. „Beinahe jedes Dach ist bewohnt. Kein Politiker würde sich trauen, die Räumung der Dächer anzuordnen. Das würde eine Revolte auslösen!“

Satellitenstädte gegen die Wohnungsnot?

Ägyptens Antwort auf die Überbevölkerung, die Wohnungsnot und das Verkehrschaos in Kairo ist der Bau von Satellitenstädten. In den vergangenen Jahrzehnten hat die Regierung Siedlungen wie Sheikh Zayed, 6th of October oder Rehab aus dem Wüstenboden gestampft, weit weg vom Stadtzentrum Kairos und mit vielen Wohnungen. Doch die können sich Leute wie Mustafas Bruder Ahmed nicht leisten. Cousin Anwar könnte zwar die Miete aufbringen, aber der Weg zur Arbeit ist für ihn – und viele andere Kairoer – zu umständlich und zeitraubend. So stehen in den erwähnten Planstädten viele Immobilien leer. Dennoch hält der ägyptische Präsident Abdel Fattah al-Sisi an einem weiteren Megaprojekt fest. Der Regierungssitz soll in die Wüste verlegt werden, etwa 60 Kilometer östlich von Kairo. 60 Milliarden Euro kostet die neue Verwaltungshauptstadt „New Administrative Capital“, die noch keinen endgültigen Namen trägt und deren Fläche etwa so groß ist wie Singapur.

Der Iconic Tower im Zentrum des Banken- und Geschäftsviertels der neuen Verwaltungshauptstadt ist mit 394 m das höchste Gebäude Afrikas.

Die ambitionierte Planung ist für über sechs Millionen Einwohner ausgelegt, umfasst einen internationalen Flughafen, größer als London-Heathrow, und einen Stadtpark, der doppelt so groß wie der weltberühmte Central Park in New York wird. Der 35 Kilometer lange, künstlich angelegte Green River soll für üppiges Grün in der Einöde sorgen und alle 21 Wohnviertel der neuen Hauptstadt miteinander verbinden. „Das ist eine sinnlose Verschwendung von Ressourcen“, bemängelt der ägyptische Architekt und Stadtplaner Yasser Elsheshtawy gegenüber dem RedaktionsNetzwerk Deutschland. „Wo wird das ganze Wasser herkommen? Aus dem Nil? Das würde den Wassermangel in Kairo doch nur noch verstärken.“

Anfang 2023 sind erste Abteilungen des Verwaltungsapparats verlegt worden. Wie lange es dauert, bis alle Ministerien, Botschaften und Behörden umgezogen sind, dazu gibt es bislang keine offiziellen Angaben. Nur wenige Geschäfte haben mangels Kunden oder aufgrund noch fehlender Infrastruktur geöffnet. Und was ist mit den über eine Million Wohnungen? Die könnten sich nur vermögende Ägypter oder Ausländer leisten, die Wohnungsnot in Kairo würden sie nicht lindern. Elsheshtawy, der als Professor an der Columbia University in New York lehrt, glaubt, dass sich die soziale Ungleichheit weiter verschärft und vielleicht wieder in Massenprotesten entlädt. „Das Regime hat allerdings aus den Protesten von 2011 gelernt. Es hat sich aus Kairo zurückgezogen und kann sich nun in der Wüste besser vor dem eigenen Volk schützen.“

Auch auf den Dächern von Kairo diskutieren die Bewohner über die neue Hauptstadt. Ob sie irgendwann dorthin zwangsumgesiedelt werden? Die meisten von ihnen nicht in die schicken Wohnungen der City, sondern in Slums, die am Stadtrand entstehen werden? Die Angst, dass ihre Gemeinschaft auseinanderbrechen könnte, vertreiben sie mit einem leckeren Essen. Weil die Frauen auf dem Markt ein Schnäppchen gemacht haben, laden sie die Großfamilie vom Nebendach ein, mitzuessen, zu musizieren und zu tanzen. „Wozu aufregen?“, sagt Anwar, und Mustafa nickt zustimmend. „Unser Schicksal liegt allein in Allahs Händen.“

Sehr empfehlenswert die kurze ARD-Reportage „Ägyptens neue Hauptstadt – ohne Einwohner“:

https://www.tagesschau.de/ausland/afrika/aegypten-neue-hauptstadt-107.html