31.05.2023

Zweiradliebe

Saigon hat neun Millionen Einwohner – und etwa 8,5 Millionen Mopeds! Deswegen lernt man die Stadt am besten als Beifahrer auf einem Zweirad kennen. Motocyclo-Fahrer kann man für kurze Strecken mieten oder auch tageweise. Mit ihnen sieht man Saigon aus der gleichen Perspektive wie seine Einwohner.

Zweiradliebe

Das erste Mal werde ich wahrscheinlich nie vergessen. Die Fahrt war nur kurz, sechs oder sieben Minuten, länger braucht ein Motocyclo-Fahrer nicht vom Wiedervereinigungspalast zum Bitexco Financial Tower. Wir mussten aber mitten durchs Zentrum, auf einer dicht befahrenen Straße, sechsspurig, im Pulk mit – naja: etwa 150 anderen Rollerfahrern, kollektives Tempo nach Tacho 64 km/h. Dann kam eine Kreuzung mit roter Ampel. Mit einer tiefdunkelroten Ampel. Und was machten wir? Die 150 um uns herum, mein Fahrer, und ich hinter ihm logischerweise dann auch: Was machten wir? Klar. Wir fuhren weiter. Mit Vollgas. Von links kamen Autos, Radfahrer und ein Schwarm Mopeds, von rechts kamen Autos, Radfahrer und ein Schwarm Mopeds. Wir fuhren trotzdem weiter. Mittenrein und mittendurch. Mit 64 Stundenkilometern.

Eine Stadt im Schnelldurchgang

Natürlich ist das gut gegangen. Wie alle anderen Fahrten auch. Fünf Tage war ich auf meiner letzten Vietnamreise in Ho Chi Minh City, das macht schätzungsweise 32 Fahrten als Sozius auf einem Motocyclo-Taxi. Mit Fahrern, die den ganzen Tag nichts anderes tun und deswegen traumwandlerisch sicher unterwegs sind. Zwei, drei Touren hat es trotzdem gebraucht, bis meine Nervosität verflogen war. Und anschließend noch ein paar weitere, ehe es anfing, Spaß zu machen. Danach war Saigon ein vorbeiziehender Film. Eine rasante Abfolge an Farben, Gerüchen und Geräuschen, eine Stadt im Schnelldurchgang. Rund um die Verkehrsinsel mit den Luftballonverkäufern vor dem Hotel Rex. Vorbei an Saigons Rathaus und die Le Loi entlang bis zum Markt. Hinüber zum Fluss. Quer durch die Stadt bis in die Gassen von Cholon, dem alten Chinesenviertel. Und abends dann wieder zurück, zum Hotel im Zentrum. Irgendwann liebte ich das. Irgendwann habe ich die verstecktesten Pagoden, abstrusesten Schreine und entlegensten Märkte besucht, bloß um einen triftigen Grund für einen weiteren Trip zu haben.

Natürlich war das anders geplant gewesen: Eigentlich wollte ich Saigon erkunden wie andere Großstädte auch. Wollte viel zu Fuß unterwegs sein, mit dem Bus in weiter entfernte Viertel fahren und abends dann vielleicht mit dem Taxi zurück ins Hotel. Dann aber stellte ich fest: Alles nicht so einfach. Die Busse fuhren nach einem für mich rätselhaften System an unauffindbaren Haltestellen, die Taxis brauchten wegen des hohen Verkehrsaufkommens eine halbe Ewigkeit. Und für längere Fußmärsche war es einfach zu heiß. Zu kompliziert war es auch.

Der erste Morgen, nach Frühstücks-Croissants und Milchkaffee: Hinter der Hoteltür warten schon 35 Grad. Und ein Dutzend Scooterfahrer, die winkend ihre Dienste anbieten, aber die kurze Strecke zum Revolutionsmuseum kann man schon mal laufen. Denke ich. Und stehe zehn Meter weiter vor einer rasenden Barriere aus Kleinlastern, Taxis und Zillionen Mopeds. Noch während ich fassungslos betrachte, was Einheimische wahrscheinlich als normales Verkehrsaufkommen bezeichnen würden, drängt mich eine Gruppe singender Schulmädchen Richtung Fahrbahn. Beim Ausweichen trete ich in eine seltsame Vertiefung im Bürgersteig; anschließend verhindert nur eine rollende Garküche einen Sturz. Der Imbiss-Besitzer mariniert gerade Tintenfische oder etwas Ähnliches. Jedenfalls fühlt es sich beim Abstützen mit der Hand so an.

Sightseeing vom Mopedsitz

Und damit ist eigentlich alles entschieden: Diese Stadt wird vom Moped-Rücksitz aus erobert. 20.000 Dong will der nächstbeste Fahrer für den Transport zur Dong Khoi, noch nicht einmal ein Euro ist das. Also los! Der Fahrer gibt sofort Vollgas, umkurvt schlingernd einen herantuckernden Pritschenwagen und den Bus an der Haltstelle zwanzig Meter weiter. Dann schaltet er einen Gang hoch, wir machen einen Satz nach vorne, und ich hintendrauf weiß, warum Saigons Motocyclo-Fahrer „Xe Om“ gerufen werden. Im Vietnamesischen bedeutet das auch so viel wie „den Fahrer umarmen“.

Man sieht natürlich eine Menge, wenn man als Motocyclo-Passagier unterwegs ist. Zum Beispiel, dass dieses Saigon eine ziemlich aufregende Metropole ist. Im Zentrum, das die Franzosen den Vietnamesen bei ihrem Abzug scheckheftgepflegt überlassen haben, wirkt die Stadt straßenzugweise noch immer wie in Kolonialzeiten – mit Gebäuden, die aus einem Roman von Graham Greene gepurzelt zu sein scheinen. Die Dong Khoi war früher die Flaniermeile Indochinas und ist es bis heute geblieben. In den Schaufenstern der Läden liegen asiatische Designerstücke und feinste Lackarbeiten, vor den Cafés sitzen durchgestylte Jugendliche bei Café au lait und Croissants. Und natürlich saust man anschließend auf einer aufgemotzten Honda Wave in Speziallackierung nach Hause. Selbst mein Fahrer schaut da neidisch.

Kinder, Enten, Ferkel

Die meisten hier fahren übrigens eine Air Blade oder eine Dream, Hondas Modelle für den Allzweckeinsatz. Ausgelegt für zwei Personen, meistens aber als Familienfahrzeug in Gebrauch, Vater, Mutter und drei Kinder plus kleinere Markteinkäufe wie drei Enten oder ein Ferkel. Solche Maschinen kosten in Vietnam je nach Ausstattung umgerechnet zwischen 1600 und 2600 Euro, das sind abermals umgerechnet etliche Durchschnitts-Monatsgehälter. Weswegen wiederum viele auf Imitaten aus China unterwegs sind. Die kosten bloß ein Drittel. Oder noch weniger.

Wo waren wir? Hinter einem Fahrer, auf dem Weg aus der Innenstadt hinüber nach Cholon. Saigons altes chinesisches Viertel ist der Stadtteil, der sich am unversehrtesten durch Vietnams turbulente Zeitläufte hindurch gemogelt hat und in dem noch etliche historische Gebäude stehen. Berühmt ist Cholon vor allem für seine Pagoden, und die Quan-Am-Pagode wiederum ist die berühmteste von allen. Man sieht sie zuerst kaum, so viele Räucherstäbchen-Verkäufer sitzen vor ihrem Eingang und erzeugen vernebelnde Schwaden. Im Innenhof ist es dann, als habe jemand Saigon den Ton abgeschaltet.

Für einen Moment ebben die Geräusche von der Straße noch nach, dann ist es still. Man hört nur noch das Murmeln der betenden Nonnen und das leise Klimpern der Glöckchen, die zwischen gewaltigen Räucherwerk-Spiralen von der Decke hängen. Oben, unter dem verzierten Dachfirst, gurrt ein Taubenpärchen. Eine Frau trägt eine Schale Obst herein und stellt sie vor einer der Götterfiguren ab. Sie verneigt sich mit aneinander gelegten Händen. Für einen kurzen Moment ist es, als sei die Zeit eingefroren.

Draußen wartet die übliche Armada Motocyclos. Aus der Gruppe gleich neben dem Eingang löst sich eine Frau: eine Fahrerin! Das ist ganz selten! Doppelter Fahrpreis, wegen Dunkelheit und Rush Hour und so? Natürlich. Sie nickt mit dem Kopf Richtung Sitzbank, ihre schwarzen Haare fliegen wie ein samtener Vorhang kurz vor ihr Gesicht und wieder zurück. Ich halte mich natürlich brav am Gepäckträger fest. Bis sie auf der Ly Tu Trong Road abbremst. Zwei, drei Sekunden stehen wir fast, und dann gibt sie derartig Gas, dass ich wie an Scharnieren aufgehängt nach hinten klappe, und wenn ich nicht geistesgegenwärtig Xe Om gemacht hätte, läge ich jetzt da, ganz bestimmt. An der nächsten roten Ampel dreht sie den Kopf zurück und grinst. Dann fliegen ihre Haare wieder wie ein Vorhang. Dann gibt sie Vollgas.

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Unser Autor Stefan Nink ist Reisejournalist und schreibt u. a. für die ZEIT und die Süddeutsche Zeitung.