Am Fluss der neun Drachen
5000 Kilometer Wasserstraßen gibt es in Vietnams Mekong-Delta, und lange Zeit spielte sich das Leben hier beinahe ausschließlich am oder auf dem Wasser ab. Jetzt bedrohen Schnellstraßen, Meeressalz und Kraftwerke in China das Gewächshaus Vietnams. Und auch eine besondere Kultur und Lebensweise.
Mit den Augen lässt er sich Zeit. Die Augen sind wichtig. Niemals würde ein Boot ohne diese aufgemalten Augen seine kleine Werft verlassen: Das wäre eine offene Einladung an die Geister und Dämonen des Mekong. Die würden sich das Boot mit Mann und Maus holen, eher heute als morgen. Nur die Augen auf dem schräg gestellten Bug können dieses Unheil verhindern, da ist er sich sicher. Quach Thanh Hung zieht die Pupille auf dem Schiffsrumpf mit einem feinen Pinsel nach: fertig. Seine Hand fährt über den glatt geschliffenen Rumpf. Er geht zum Heck, fühlt, tastet, streichelt. Zündet sich eine Zigarette an. Nestelt an den fünf, sechs glücksbringenden Haaren, die aus der Warze auf seiner Wange sprießen. Lässt sich in eine Hängematte fallen und betrachtet das Boot: Wie ein Künstler, der soeben ein Werk vollendet hat und ziemlich zufrieden damit ist. Er schaltet den Fernseher an. Durch ein Loch in den Planken unter der Hängematte kann man das schlammbraune Wasser fließen sehen.
Männer wie der Bootsbauer Quach Thanh Hung sind die Herzschrittmacher des Mekong-Deltas: Ohne ihre Schiffe und Kähne wäre die 40.000 Quadratkilometer große Region im äußersten Südwesten Vietnams bewegungsunfähig. Obwohl in den vergangenen Jahren etliche neue Straßen ins Delta hinein gebaut wurden, läuft vieles nach wie vor auf dem Wasserweg ab. Mehrere hunderttausend registrierte Boote sind hier unterwegs. Sie verbinden Dörfer mit Dörfern, den Weiler mit der Stadt, das Hinterland mit der Küste und irgendwie auch Vietnam mit dem Rest der Welt.
Vor allem aber transportieren sie, was auf den Feldern und in den Gärten des Deltas angebaut wird. Und weil dieses gewaltige Open-Air-Gewächshaus von der Größe der Schweiz ein Viertel aller landwirtschaftlichen Produkte des Landes hervorbringt, braucht es diese Armada aus Booten, Kähnen und Schiffen. Manche bieten nur Platz für zwei Leute und eine Fuhre Wirsing. Mit manchen kann man die Ernte eines ganzen Dorfes zum nächsten Markt schippern.
Der Fluss hat immer Glück gebracht
Song Cuu Long, "Fluss der neun Drachen": So heißt der Mekong auf Vietnamesisch. Eigentlich fächert sich der Strom im Delta nur in acht Arme auf. Weil aber die Acht nicht als glückliche Zahl gilt in einer Region, die über Jahrhunderte hinweg wie ein gewaltiger Schwamm chinesischen Aberglauben aufgesogen hat, zählen die Vietnamesen kurzerhand einen künstlichen Kanal mit – und kommen so auf die glücksbringende Neun. Und Glück: Das hat der Mekong ihnen gebracht. Im Zusammenspiel mit einem komplizierten Bewässerungssystem, günstigen klimatischen Bedingungen und Menschen, denen 18-Stunden-Arbeitstage offensichtlich kaum an die Substanz gehen, hat sein steter Zufluss aus einem der Armenhäuser Südostasiens eine erfolgreiche Exportnation gemacht. Aus dem Delta kommen nicht nur mehrere Reisvarianten, sondern auch Tomaten, Süßkartoffeln, Kokosnüsse und etliche Obstsorten, für deren Benennung Nicht-Vietnamesen einen Botanik-Atlas zu Rat ziehen müssen. Und gehandelt wird all das noch immer auf schwimmenden Märkten.
In Cai Rang in der Nähe von Can Tho zum Beispiel. Es ist noch dunkel, der neue Tag nicht mehr als die Andeutung eines Glimmerns am samtblauen Horizont, aber das hat in Vietnam nichts zu bedeuten: Auf den Straßen der Stadt herrscht schon jetzt eine Art Ausnahmezustand, und auf dem Wasser ist es nicht anders. Hunderte Boote drängeln in der Nähe des Ufers: Boote mit aufgetürmten Kokosnuss-Pyramiden, Boote mit feuerroten Pflaumen, Boote mit Kohl und Rettich, Boote mit Bananen, Orangen und Litschis. Zwischendrin tuckern Boote mit Baguette-Verkäufern, Kaffee-Boote, Cola-Boote. Es gibt Boote mit Lotterielosverkäufern, Entenhändlern, Reissuppenköchinnen, Kampfhahnzüchtern und Benzinfeuerzeugnachfüllern.
Möglicherweise existiert ein festgelegtes Rangiersystem mit Vorfahrtsregeln, aber wenn, ist es für den Laien nicht erkennbar. Ersichtlich ist nur, dass lediglich die größten Schiffe fest vor Anker liegen, die mit zehntausend Kokosnüssen oder 700 Wassermelonen oder zwanzig Tonnen Reis in den Laderäumen. Alle anderen bewegen sich kreuz und quer zwischen diesen Fixpunkten, fahren von einem zum anderen, legen an und wieder ab, beschleunigen, stoppen, wenden, während ihre Besitzer kaufen und verkaufen. Sobald die Transaktion zu Ende ist und Kohlköpfe oder Tomaten das Boot gewechselt haben, rudert die Frau im Heck – es sind meistens Frauen, die auf vietnamesischen Märkten Geschäfte machen – mit wenigen Paddelschlägen weiter. Natürlich ist das Knochenarbeit, aber wie beinahe alles in diesem Land sieht es elegant aus, dieses Rudern: im Stehen, mit vor der Brust gekreuzten Armen, die Beine versetzt wie bei einem Ausfallschritt.
Die eingebaute Antenne
Am Rande des Marktes liegt Bui Kim Phas Boot vor Anker und dümpelt in der leichten Strömung. 40 Tonnen Süßkartoffeln hat die 43-Jährige im Schiffsrumpf gelagert, zumindest waren es eben noch so viele, gerade hat jemand zehn Säcke gekauft. Mann, Tochter und Schwester wuchten sie einen nach dem anderen aufs Heck und reichen sie zum Boot des Käufers hinunter. Bui Kim Pha kontrolliert die Bestände: Drei, vier Markttage noch, dann dürfte auch der Rest verkauft sein. Und dann? Wassermelonen, sagt sie. "Hier gab es in den letzten Tagen kein Boot, das Wassermelonen verkauft hat." Ihr Mann macht sich jeden Morgen auf die Suche nach einer Marktlücke, "er hat da so eine eingebaute Antenne", sagt sie und kichert. Und er hat auch schon herausgefunden, wo im Delta die Melonen gerade reif sind: In einem Anbaugebiet 70 km stromaufwärts. Sobald die Kartoffeln verkauft sind, werden sie dort hinfahren und nachladen. "Wir mögen Wassermelonen – die lassen sich leicht verladen und bringen gutes Geld." Bui Kim Pha verschwindet im winzigen Wohnbereich des Schiffes, Hängematten, Küche, der Wohnraum mit einem kleinen Altar, alles arrangiert wie bei einem Puzzle. Sie trägt einen dieser vietnamesischen Haus-Schlafanzüge, eine kleine, energische Frau, die sich mit jener typischen Mischung aus Kraft und Behändigkeit bewegt, die man entwickelt, wenn man täglich Muskeln und Gleichgewichtssinn braucht.
Das Geschäft auf den schwimmenden Märkten des Deltas ist schwieriger geworden mit den Jahren. Zuerst waren es die neuen Straßen, die den Bootshändlern die Umsätze schmälerten, weil immer mehr Produkte mit Lastwagen nach Saigon gebracht werden. In die große Stadt zieht es die Jüngeren sowieso schon länger, kaum jemand möchte – wie die Eltern und deren Eltern – sein Geld damit verdienen, Obst aus einem schwankenden Boot heraus zu verkaufen. Und dann kam auch noch die Pandemie. Corona hat vielen der schwimmenden Umschlagsplätze ein jähes Ende bereitet. In Cai Rang wird mittlerweile wieder gehandelt. Ob die kleineren Märkte sich erholen werden, ist ungewiss. Bui Kim Pha zündet sicherheitshalber einmal öfter am Tag Räucherstäbchen am Bootsaltar an und bittet um gute Geschäfte. Und sie will sobald wie möglich nach Chau Doc, um der Dame Xu ihre Reverenz zu erweisen.
Die drei Farben des Deltas
Inmitten einer großen Konkurrenz aus kraftstrotzenden Helden und glücksbringenden Geistern ist besagte Dame Xu im Lauf der Zeit zur Nationalheiligen des Deltas aufgestiegen: Wer ihr opfert, darf auf gute Ernten und Umsätze hoffen. Angebetet wird die Verehrte auf dem Nui Sam, einem Berg bei Chau Doc in der Nähe der kambodschanischen Grenze. Auf dem Fußpfad zum Gipfel hat sich dem Besucher ein wirres Sammelsurium an Privattempeln in den Weg gelagert, die von geschäftstüchtigen Wahrsagern, Eremiten und Scharlatanen bewohnt werden. Der Blick von oben entschädigt dann aber für alles: Unter einem liegt ein Patchwork aus Reisfeldern, Obstgärten und Kanälen, das bis zum Horizont reicht. Unten, in der Ebene, mag man den Eindruck haben, das komplette Land sei dicht besiedelt. Von hier oben aber sieht man, dass die Menschen immer nur in einer einzelnen Dorf- oder Gebäudereihe entlang der Wasserstraßen leben – unmittelbar dahinter beginnen die Anbauflächen, die dann wieder bis zur nächsten Häuserreihe am nächsten Kanal reichen. Es gibt nur drei Farben hier oben: Das Blau des Himmels. Das Grün der Felder. Und das Schlammbraun des Wassers.
Die Farbe des Mekongs stammt übrigens von den Millionen Tonnen Sedimenten, die der Strom Jahr für Jahr ins Meer spült. Seit die Chinesen große Kraftwerke am Fluss gebaut haben, führt der Mekong allerdings immer weniger Wasser ins Delta. Und während der Trockenzeiten dringt das Meerwasser bis zu 120 Kilometer ins Land vor und sorgt für eine schleichende Versalzung. Wie so viele andere Landschaften am Meer ist auch das Delta in Gefahr. Und damit eine besondere Kultur und eine Lebensweise.
Die Bewohner des Deltas zucken mit den Schultern, wenn man sie auf die Zukunft anspricht. Die Menschen hier vertrauen dem Strom, ihrem Strom, der ihnen wenn schon nicht Wohlstand, dann aber doch immer genügend zum Essen beschert. Wenn die Sonne untergegangen ist und die Familien des Deltas sich zum Abendessen versammeln, werden am Hausaltar auch Räucherstäbchen für die Flussgeister entzündet. Dann hoffen die Menschen, dass sie den Mekong auch weiterhin zärtlich bei seinem Kosenamen nennen können: "Kien Giang" – "Geduldiger Fluss".