12.10.2022

Mit der Säge gegen Wilderer

In Südafrika setzen sich Tierärzte mit einer ungewöhnlichen Methode für den Schutz von Nashörnern ein. Unser Autor war dabei.

Mit der Säge gegen Wilderer

„Rennen“, sagt der Doc, „wenn ich das Signal gebe, rennt ihr bitte alle zum Auto. Ihr haltet nicht an, ihr dreht euch nicht um – ihr rennt, so schnell ihr könnt. Verstanden?“ Der Doc schaut in die Runde. Er blickt in irritierte Gesichter. Den meisten von uns dämmert wahrscheinlich gerade erst, dass das hier kein Spaß ist. Dass so eine Aktion auch schnell mal aus dem Ruder laufen kann. In ein paar Minuten werden wir einem Nashornbullen die Hörner absägen. Zuvor wird der Doc ihn ins Reich der Träume befördert haben, per Betäubungsgewehr, aus einem Helikopter heraus. So lange die Narkose wirkt, ist das Tier ungefährlich. Unmittelbar nach der OP aber wird der Doc dem Nashorn eine Aufwachspritze verpassen. Das ist der Moment, in dem wir zurück zu unserem Landrover rennen müssen. Der Doc hat betont, dass Nashörner die jähzornigsten Bewohner Afrikas sind. Manchmal brauchen sie nur wenige Sekunden, um nach der Narkose wieder auf den Beinen zu sein, und meistens sind sie dann stinksauer. „Ihr rennt, so schnell ihr könnt. Verstanden?“ Wir nicken. Wir nicken alle.

Gleich heißt es: rennen! Ein Nashorn bekommt eine Aufwachspritze.

Seit drei Tagen sind wir in der südafrikanischen Provinz Kwazulu-Natal unterwegs, zusammen mit einem Tierarzt. Vet-Safaris heißen diese Touren, für die sich längst nicht nur Veterinäre interessieren, sondern auch Tierfreunde, Naturschützer und Menschen, die Südafrika einmal anders erleben möchten. Was auf einer Tour mit Dr. Peter Brothers ganz bestimmt funktioniert. Bevor der erste operative Eingriff auf dem Programm steht, bekommt man nämlich nicht bloß jede Menge Verhaltenshinweise (damit einem beim Einsatz nichts zustößt), sondern auch eine mehrtägige Einführung in Sachen „Das Tierleben in der Savanne“. Nach dem Frühstück in der Lodge starten wir im offenen Landrover zur täglichen Bildungsfahrt. Afrikas große – und potentiell gefährliche – Tiere nehmen Personen in offenen Autos als Teil des großen, stinkenden Ganzen wahr und ignorieren sie in der Regel. Zurück sind wir erst zum Abendessen. In der Zwischenzeit haben wir mehr Elefanten, Zebras und Antilopen gesehen als nach zwanzig Folgen „Daktari“.

Unser Autor Stefan Nink ortet gerade den Peilsender eines Nashorns.

Hörner für Asien

Und warum um alles in der Welt sägen wir Nashörnern die Hörner ab? Weil hornlose Nashörner in Südafrika überleben – und Nashörner mit Horn ins Visier von Wilderern geraten. Oder, anders gesagt: Ein Nashorn mit Horn ist hier sehr schnell ein totes Nashorn. Zwar ist die Zahl der getöteten Tiere in den vergangenen Jahren allmählich zurückgegangen, dennoch wurden auch 2021 noch über 450 Nashörner von Wilderern massakriert. Gefährdet sind vor allem Tiere in den Private Game Reserves, deren Besitzern oft das Geld für geeignete Schutzmaßnahmen fehlt. Genau diese privaten Tierschutzgebiete nehmen sich Wilderer in Nacht-und-Nebel-Aktionen vor, bewaffnet mit Gewehren, Äxten und Motorsägen. Bei Tagesanbruch liegen die verstümmelten Kadaver in der Savanne; die Hörner sind dann meist schon auf dem Weg nach Asien. In China und Vietnam zahlen reiche Kunden bis zu 80.000 US-Dollar pro Kilo: Man glaubt dort, pulverisiertes Nashornhorn helfe gegen alle möglichen Krankheiten, sogar Krebs könne es heilen. Dabei besteht es nur aus Keratin. Wie Finger- oder Zehennägel.

Jetzt aber! Unser erster Patient! Der Doc funkt dem Fahrer Richtungsanweisungen aus dem Hubschrauber über uns. Vier, fünf, sechs Minuten kann sich ein Nashorn mit Betäubungspfeil im Hintern noch auf den Beinen halten – in dieser Zeit scheucht der Pilot es aus dem Gestrüpp ins halbwegs offene Gelände, damit das Auto mit den Helfern möglichst nah herankommt. Der Landrover rumpelt und kracht und schlingert durch die Savanne, und manchmal fliegt er auch für ein oder zwei Meter, und der Doc schreit seine Anweisungen durchs Funkgerät, und dann sind wir da und springen aus dem Auto und laufen hinüber zum schlafenden Patienten. Der Doc kniet schon neben ihm.

Nashorn-Doc im Anflug: Gleich beginnt die "Behandlung".

Haut wie Hartgummi

Beinahe drei Meter lang, fast zwei hoch, knapp anderthalb Tonnen schwer, mit einer Haut wie Hartgummi: Nashörner sind unglaublich massive Tiere – selbst wenn sie schlafen, kommt man sich neben ihnen schwach und schutzlos vor. Der Doc holt die Säge, und wir anderen machen uns an die Aufgaben, die wir vorher zugeteilt bekommen haben: Puls und Sauerstoffgehalt des Blutes messen, neue Batterie in den Peilsender am linken Vorderbein, Desinfektionsmittel auf kleine Kratzer, die sich das Nashorn bei der Flucht vor dem Hubschrauber zugezogen hat. Dann zwicken wir ihm mit einer speziellen Zange noch zwei Dreiecke aus dem unempfindlichen rechten Ohrlappen – alle behandelten Tiere bekommen ein individuelles Muster verpasst, damit man sie später mit dem Fernglas auseinanderhalten kann. Das alles muss schnell gehen, damit das Nashorn nicht allzu lange bewusstlos in der südafrikanischen Hitze liegt. „Alle fertig?“, fragt der Doc, wirft ein großes und ein kleines Horn in den Rucksack und holt die Spritze mit dem Aufwachmittel heraus. „Dann rennt! Jetzt!“

Vet-Safaris werden in Südafrika von etlichen Tierärzten angeboten. Die Veterinäre arbeiten im Auftrag der Besitzer von Private Game Reserves; die Teilnehmer der Safaris finanzieren die Einsätze quasi durch ihre Buchung. „Uns bleibt nicht mehr viel Zeit“, wird der Doc später beim Abendessen sagen, „wenn wir nicht bald handeln, wird es für die Nashörner zu spät sein.“ Und dann wird er einen überraschenden Vorschlag machen, wie man die Tiere retten könne. Man müsste sämtlichen Nashörnern in Südafrika die Hörner entfernen, wird er sagen, wirklich allen, und die Hörner anschließend nicht wie bislang in Safes wegschließen, sondern selbst in Asien verkaufen „Mit dem Geld ließen sich sämtliche Parks im Land viele, viele Jahre lang betreiben. Und die Wilderer wären arbeitslos.“

Black Mambas als Role Models

Auch andere Tierschützer wären dann glücklich. Die Black Mambas zum Beispiel, eine Gruppe von über dreißig Rangerinnen, die die Nashörner im Balule Nature Reserve bewacht, einem Schutzgebiet am westlichen Rand des Krüger-Nationalparks. Die Mambas verstehen sich als Augen und Ohren des Parks mit seinen 400 Quadratkilometern. Sie patrouillieren zu Fuß und unbewaffnet; entdecken sie Hinweise auf Wilderer, rufen sie bewaffnete Ranger zur Verstärkung. Natürlich ist das gefährlich. Natürlich wissen sie das. Sie wissen aber auch, wie erfolgreich sie sind. Bevor die Black Mambas 2013 gegründet wurden, wurde in Balule nahezu jede Nacht gewildert. Seit die Rangerinnen patrouillieren, ist die Zahl der Zwischenfälle um beinahe neunzig Prozent zurückgegangen.

Zwei Mitglieder der Black Mambas: erfolgreiche Patrouillen.

Sämtliche Mambas kommen aus den Dörfern der Umgebung. Die Frauen wissen, dass Wilderer für heranwachsende Männer dort oft Vorbilder sind. Sie gelten als tough und clever; das Geld, das sie beim blutigen Geschäft mit den Nashörnern verdienen, verschafft ihnen zusätzliche Anerkennung. Um das zu ändern, haben die Black Mambas das Bush Babies Environmental Education Program gestartet. Alle Schulkinder in den Dörfern erhalten wöchentlichen Unterricht  in Biologie und Naturschutz. Und lernen, dass Rangerinnen wie die Black Mambas bessere Role Models sind als Wilderer mit Äxten und Gewehren.

Role Models für Kinder: Die Black Mambas setzen sich auch für Bildung ein.

Im Lauf der nächsten Tage macht unsere Ausbildung zu Safari-Doc-Assistenten ziemliche Fortschritte. Wir wechseln Peilsenderbänder, versorgen die Einstichwunden durch die Narkosepfeile mit Antibiotika, überwachen die Atmung der narkotisierten Tiere und halten ihre Köpfe so, dass der Doc auch kleine Hornstümpfe mit der Säge entfernen kann. Weil die Hörner nachwachsen, müssen sie spätestens alle zwei Jahre nachgeschnitten werden. Die Tiere benötigen sie übrigens nicht – außer beim Gerangel mit anderen Nashörnern, deswegen muss man sämtliche Bullen in einem Revier enthornen, sobald man einen einzigen operiert hat. Wenn sie aus der Narkose aufwachen und mit ihren nicht mehr vorhandenen Hörnern wutschnaubend Löcher in die Luft hacken, ahnt man aber, was sie mit ihnen anrichten könnten.

Am letzten Abend versperrt uns auf der Fahrt zu unserer Unterkunft ein riesiger Schatten den Weg: Direkt vor uns steht ein Nashorn auf der Sandpiste. Man sieht es von hinten, und von hinten sieht man bei einem Nashorn auch bei hellem Scheinwerferlicht nur seinen dicken Hintern. Der Doc bremst, und alle im Auto schauen gespannt nach vorn. Nashörner besitzen ein sehr gutes Gehör, deshalb wirkt es ein bisschen so, als halte es uns mit Absicht hin, als es lange Zeit regungslos stehen bleibt. Irgendwann aber dreht es sich um und schaut in unsere Richtung.

Es hat kein Horn mehr. Und in seinem rechten Ohr fehlen zwei Dreiecke.