30.05.2022

Land & Leute

Wieso spielt Urban Gardening in Kubas Hauptstadt eine so große Rolle? Warum reisen kubanische Ärzte durch die ganze Welt? Und welche Sängerin trägt auch in Miami Havanna in ihrem Herzen?

Land & Leute

Tänzelnd zum Sieg

Während die Menschen in den Straßen oder Bars zu Son und Salsa tanzen, tänzeln die Jungs im Gimnasio Rafael Trejo in Havanna schweißtriefend über den Schwingboden. Auch hier, in Kubas wohl bekanntester Boxschule, kommt es auf Rhythmusgefühl und perfekte Beinarbeit an. In Kuba ist Boxen Nationalsport und wird staatlich gefördert – seit Jahrzehnten mit großem Erfolg: Auch bei den Olympischen Sommerspielen 2020, die pandemiebedingt 2021 in Tokio stattfanden, führte Kuba mit vier Goldmedaillen wieder den Medaillenspiegel im Boxen an.

Jeder kubanische Junge träumt davon, als Boxer berühmt zu werden. Wer gut ist, kann es weit bringen, zu Wettkämpfen fliegen, die Welt kennenlernen, Ruhm und Ehre einheimsen – nur eines kann er nicht: reich werden. Denn Fidel Castro hielt Berufsboxen für einen Auswuchs kapitalistischer Dekadenz, weshalb der Profiboxsport, in dem Millionen US-Dollar verdient werden können, für kubanische Boxer tabu ist.

Mehr über die Boxkultur in Kuba erfährt man in dem Bildband „Boxing Cuba“ von Katharina Alt mit Texten von Michael Schleicher.

Besser spät als nie

Manche Dinge brauchen einfach Zeit: Carmen Herrera, die 1915 in Havanna geboren wurde, hat ihr Leben lang gemalt. Aber ihr erstes Bild verkaufte sie erst im Alter von 89 Jahren. Dann ging es Schlag auf Schlag: Museen wie das MoMA in New York oder die Londoner Tate interessierten sich für ihre Werke, und 2016 ehrte sie das renommierte New Yorker Whitney Museum of American Art mit einer Einzelausstellung.

Nach ihrem Abitur studierte Herrera in Kuba Architektur. Sie zog 1939 nach New York und besuchte dort eine Kunstakademie. Ihre Bilder sind stilistisch so einfach wie möglich gehalten und auf wenige Farbflächen und Linien reduziert. Heute gilt sie als Pionierin der geometrischen Abstraktion und des Minimalismus. Nach dem Verkauf ihres Bildes "Vertikals" 2017 für über 750.000 US-Dollar sagte die Künstlerin in einem Interview mit der Zeitung Nuevo Herald über ihren späten Erfolg: "Es wurde auch Zeit. Oh Gott, war das Warten lang!" Am 12. Februar 2022 ist die Spätentdeckte im Alter von 106 Jahren in New York gestorben.

Urban Gardening in Havanna

Ob in Berlin, New York oder London – Urban Gardening liegt im Trend. Während das Bepflanzen von Baum- und Verkehrsinseln oder das Anlegen von Gemeinschaftsgärten hier ein Ausdruck von Umweltbewusstsein und Lifestyle ist, ist Urban Gardening in Kuba eine Frage des Überlebens. Als nach dem Ende des Ost-West-Konflikts und der Sowjetunion billige Nahrungsmittelimporte und Öllieferungen der sozialistischen „Bruderstaaten“ wegfielen, waren die Kubaner plötzlich von Hunger bedroht. Um Abhilfe zu schaffen, förderte die Regierung den Anbau von Obst und Gemüse in den Städten.

Mittlerweile ist Havanna die Hauptstadt des Urban Gardening. Rund 400.000 bäuerliche Betriebe, sogenannte Organoponicos, liefern etwa die Hälfte des Gemüseverbrauchs der Hauptstadt. Jeder freie Quadratmeter wird bepflanzt, auch Dachterrassen, Hinterhöfe und Balkone. Die Erzeugnisse dienen der Selbstversorgung oder werden auf den Stadtviertelmärkten verkauft. Aus der Not geboren, sind die Stadtgärten Havannas mittlerweile Vorbild für Guerilla-Gärtner und Urban-Gardening-Fans aus aller Welt.

Ärzte als Exportschlager

Fidel Castro und seine Genossen legten großen Wert auf eine gute medizinische Versorgung der Bevölkerung. Heute arbeiten im Gesundheitssystem über 100.000 Ärzte. Kuba bringt es damit auf acht Ärzte pro 1000 Einwohner (Deutschland 4,5 auf 1000) – eine Spitzenposition auf diesem Gebiet. Allerdings eher theoretisch, denn Tausende kubanische Ärzte sind im Ausland unterwegs. Früher war das ein Zeichen internationaler Solidarität, heute ist es auch ein Geschäftsmodell: Wer als Arzt ins Ausland entsandt wird, erhält eine moderate Gehaltszulage. Der Löwenanteil der Gelder, die von den Ländern für die Hilfe bezahlt werden, landet allerdings beim kubanischen Staat.

1960 entsandte Kuba zum ersten Mal Ärzte und anderes medizinisches Personal nach Chile, nachdem dort ein schweres Erdbeben gewütet hatte. Seither waren die medizinischen Brigaden, wie sie in Kuba genannt werden, in über 50 Staaten aktiv, vor allem in Entwicklungsländern. Im Mai 2020 schickte Kuba das erste Mal eine medizinische Brigade in ein Industrieland – nach Italien, um dort bei der Bewältigung der Corona-Krise rund um Bergamo zu helfen.

Dass auch der Standard in der medizinischen Forschung hoch ist, zeigt sich darin, dass Kuba eigene Impfstoffe gegen SARS-CoV2 entwickelt und mit Erfolg eingesetzt hat. Sobald die Weltgesundheitsorganisation die Impfstoffe freigibt, wird Kuba nicht mehr nur Ärzte in alle Welt exportieren, sondern auch Corona-Impfstoffe.

Havanna im Herzen

Vielleicht können Sie ja mitsingen: „Havana oh-na-na, half of my heart is in Havana oh-na-na …“ Mit ihrem Song über Kubas Hauptstadt erreicht Camila Cabello 2017 ein riesiges Publikum weltweit – 2,8 Milliarden Aufrufe bei YouTube, 51 Wochen allein in den deutschen Charts. Seitdem ist die Sängerin zuverlässige Lieferantin von Sommerhits. 1997 in – natürlich – Havanna geboren, zieht sie bereits als Siebenjährige mit ihrer Mutter in die USA. Doch Kuba hat sie nie losgelassen: Während der Corona-Pandemie setzt sich Cabello mit ihren lateinamerikanischen Wurzeln auseinander und gießt ihre Gedanken in ein neues Album, das sie passenderweise „Familia“ nennt. Für das Werk, das Anfang April erschienen ist, hat sich die Sängerin neben Superstar Ed Sheeran auch Verstärkung aus der alten Heimat geholt: Protestsänger Yotuel Romero – vielleicht ein politisches Statement?

Vaterland und Leben

Wenn wir schon über Yotuel Romero sprechen: Der 45-jährige Sänger, Rapper und Schauspieler ist ebenfalls ein Kind Havannas – und auch er hat seine Heimat verlassen und lebt nach einigen Jahren in Europa inzwischen in Miami. Weltweit bekannt geworden ist er Ende der 1990er-Jahre mit seiner Hip-Hop-Band „Orishas“, doch sein größter Coup gelingt ihm im Februar 2021: Gemeinsam mit sechs anderen kubanischen Musikern veröffentlicht er das Lied „Patria y Vida“, übersetzt „Vaterland und Leben“. Der Titel ist der Gegenentwurf zum alten Leitspruch der Revolutionäre um Fidel Castro, „Patria o Muerte“ – „Vaterland oder Tod“. Auch im Song selbst nehmen die Künstler kein Blatt vor den Mund: Sie fordern „Freiheit und ein Ende der Lügen“, thematisieren Armut, Unterernährung und Polizeigewalt. Yotuel und seine Mitstreiter sprechen das aus, was viele junge Kubanerinnen und Kubaner denken. Dementsprechend schnell geht das Lied viral, es wird sogar zur Hymne der Anti-Regierungsproteste im Sommer 2021. Die Regierung selbst ist natürlich alles andere als begeistert und versucht, die Musiker in den Staatsmedien zu diskreditieren. Doch es ist zu spät: Der Song ist in der Welt und gewinnt Monate später sogar zwei Latin Grammys.

Belesene Fabriken

Kubas berühmtestes Exportgut? Zigarren natürlich! Noch heute werden hochwertige Exemplare per Hand gerollt, gedreht und gefaltet. Doch eine Schicht als Zigarrendreher kann manchmal etwas eintönig sein. Deshalb gibt es in Kuba einen einzigartigen Beruf, der seit 2012 sogar nationales Kulturerbe ist: Lector de Tabaquería – Vorleser in der Zigarrenfabrik. Der Arbeitsplatz: ein Podest mit Pult und Mikrofon, damit das arbeitende Publikum, oftmals mehrere hundert Menschen, auch alles versteht. Der Betrieb sucht den Lesestoff aus, manchmal sind es Klassiker der Weltliteratur, manchmal Zeitungsartikel, manchmal Gedichte. Dieses Hörbuch der anderen Art serviert der Lector als kürzere Häppchen über den Tag verteilt, ein dicker Roman kann so schon mal Monate in Anspruch nehmen. Es heißt, dass die Zigarrendreher bereits seit 1865 den Vorlesern lauschen, ein Fabrikarbeiter habe einfach damit angefangen, seinen Kollegen die neuesten Nachrichten vorzulesen. Und so wie es aussieht, sind diese Lesestunden in der Vergangenheit nicht nur in Rauch aufgegangen. Der Name einer der bekanntesten Zigarrenmarken Kubas: „Romeo y Julieta“.

Kreative Oase

Türkisblaues Meer, bonbonfarbene Oldtimer, Altstadtpaläste in Pastelltönen: Kuba kennt sich aus mit Farben. Doch ein Sträßchen im Zentrum von Havanna treibt es noch bunter. In der Callejón de Hamel toben sich einheimische Künstler aus und bemalen nicht nur Häuserwände und Mauern, sondern zweckentfremden auch alle möglichen gefundenen Gegenstände – Recycling mal anders. So verwandeln sich zum Beispiel Fahrradspeichen oder Abflussrohre in Skulpturen. Und immer wieder Badewannen: mal bepflanzt, mal als Leinwand, mal als Sitzgelegenheit. Begonnen hat alles 1990, als der Bildhauer und Maler Salvador González Escalona das Haus eines Freundes in der Gasse bemalen sollte – und einfach nicht mehr aufhörte. Inzwischen haben sich Cafés und Galerien angesiedelt, sonntags wird auf der Straße getanzt, es kann also durchaus eng werden in der nur 200 Meter langen Callejón de Hamel. Den Göttern gefällt das bunte Treiben bestimmt: Viele Kunstwerke widmen sich der afro-kubanischen Religion Santería und machen das Sträßchen zu einem kunterbunten Open-Air-Tempel.