Wo die Langsamkeit regiert
Schon ein Blick aus der Ferne lässt es erahnen: San Miniato muss eine lebenswerte Stadt sein. Wie eine Burg thront sie auf einer schmalen Hügelkette, mitten im toskanischen Grün, umgeben von Olivenhainen und Weinbergen. Von den engen Straßen, die in den heißen Sommern Schatten spenden, eröffnen sich immer wieder Ausblicke auf die Natur. Ockerfarbene Häuser, grüne Fensterläden, blühender Oleander in großen Tontöpfen – Toskana wie aus dem Bilderbuch.
Dass San Miniato tatsächlich eine lebenswerte Stadt ist, steht auf dem Papier. Denn die 28.000-Einwohner-Gemeinde in der Nähe von Pisa ist seit einigen Jahren Mitglied bei Cittaslow, auf Deutsch “langsame Stadt“. Der Name der Bewegung ist Programm: weniger Stress und Hektik, dafür mehr Entschleunigung und Genuss. Weniger Auto, mehr Mensch. Weniger Masse, mehr Qualität. Weniger Einheitsbrei, mehr Charakter. Oder wie es Stefano Cimicchi, früherer Bürgermeister der umbrischen Stadt Orvieto und einer der Mitbegründer von Cittaslow, auf den Punkt brachte: „Wir geben uns nicht länger damit zufrieden, dass die als gesichtslose Ballungsgebiete gebauten Städte sich alle ähneln und es keine Rolle mehr spielt, in welcher wir leben.“
Gegen die Amerikanisierung der Kultur
Angefangen hat alles mit Slow Food: Als McDonald's 1986 eine Filiale auf der Piazza Navona in Rom eröffnete, organisierte der Publizist Carlo Petrini ein Protestessen an der Spanischen Treppe – mit italienischen Spezialitäten. Die Slow-Food-Bewegung war geboren und sagte dem scheinbar allgegenwärtigen Fast Food und dem Massenkonsum den Kampf an. Heute ist Slow Food überall auf der Welt vertreten, es gibt Messen, Restaurants, Geschäfte, Workshops und vieles mehr. Der Erfolg der Bewegung brachte Carlo Petrini auf die Idee, sein Konzept auf Städte zu übertragen: Gemeinsam mit vier italienischen Bürgermeistern gründete er 1999 Cittaslow.
Cittaslow ist aktuell mit 272 Städten in 30 Ländern weltweit vertreten. Doch in keinem Land gibt es so viele Cittaslow-Städte wie in Italien, und in keiner Region so viele wie in der Toskana. Woran das liegt? „In Italien, vor allem in den ländlichen Gebieten, gab es schon immer ein Bewusstsein dafür, Traditionen zu stärken und der Amerikanisierung der eigenen Kultur entgegenzuwirken“, sagt Studiosus-Reiseleiter Tobias Garst. Schon in den 1980er Jahren habe die Toskana dieses Bestreben unterstützt – unter anderem mit einem regionalen Gesetz, das dem heute so beliebten Agriturismo den Weg geebnet habe. „Gerade in der Toskana wimmelt es vor alten Obst- und Gemüsesorten und Tierrassen, wie zum Beispiel das Maremma-Rind, die nie ganz ausgestorben waren und wiederentdeckt wurden. In der Toskana gibt es einfach viel Gutes, viel Qualität“, berichtet Tobias Garst, der seit 20 Jahren in Pisa lebt.
Nur Städte mit maximal 50.000 Einwohnern können Mitglied bei Cittaslow werden. Außerdem müssen Bewerber strenge Auflagen erfüllen. Der umfangreiche Kriterienkatalog beinhaltet zum Beispiel Maßnahmen zur Luftreinhaltung, zur Erhaltung der Wasserqualität oder zur Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen, aber auch gut ausgebaute Radwege, die Aufwertung traditioneller Berufe oder die Vereinbarkeit von Familie und Arbeit. Zwar spielt Tourismus im Kriterienkatalog (bis auf die Erfassung von „nichtgastgewerblichen Unterkünften“ sowie den allgemeinen Wunsch nach Gastfreundschaft) keine große Rolle, doch das Stadtmarketing profitiert trotzdem: „Cittaslow ist prädestiniert für kleinere Städte, die ihre eigenen Stärken für die lokale Bevölkerung herausstellen bzw. ihre Attraktivität für Gäste steigern wollen“, schreibt das deutsche Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) in einer Studie über das Netzwerk.
Jazz in der Metzgerei
Und wie ist es nun, das Leben in San Miniato? „Es ist ruhig und gemütlich, die Wege sind kurz und der Verkehr ist erstaunlich gut geregelt“, sagt Studiosus-Reiseleiter Tobias Garst. „Durch die Lage auf dem schmalen Hügel müsste es in der Altstadt eigentlich regelmäßig zum Verkehrschaos kommen, doch die Stadt hat sich ein gutes Konzept ausgedacht. Es gibt ein sehr effizientes Bussystem, sodass kaum Autos im Zentrum unterwegs sind. Wer dennoch mit dem eigenen Wagen unterwegs sein möchte, kann am Hang parken und mit einem Aufzug hoch in die Altstadt fahren.“ Das klingt vielleicht erst einmal wenig spektakulär. Doch angesichts der Tatsache, dass die eigentlich malerische Hügellage für viele italienische Kleinstädte inzwischen zum Nachteil geworden ist, wie auch das BMVBS in seiner Studie schreibt, ist das ausgeklügelte Verkehrskonzept ein wichtiger Schritt zur Erhaltung des historischen Stadtkerns.
Bemerkenswert sei es laut Tobias Garst auch, wie viel kulturell gemacht werde – gerade für so eine kleine Stadt wie San Miniato. Es gibt unter anderem monatliche Kunstmärkte, ein Drachenfestival, ein Blumenfest, einen eigenen kleinen Palio, Theaterfestspiele sowie ein Museumssystem, das diverse Ausstellungen miteinander verbindet. Beim Bummeln entdeckt der Studiosus-Reiseleiter immer wieder nette Geschäfte. So gibt es unter anderem einen Slow-Food-Laden und eine Metzgerei, die auch Jazz-Abende und Lesungen veranstaltet. Es scheint, als hätte San Miniato alles, was eine lebenswerte toskanische Stadt ausmacht – und würde überall noch eine Schippe drauflegen.
Paradies für Feinschmecker
Und dann sind da noch all die Bauernmärkte, die regionale Produkte direkt zu den Bewohnern bringen. Denn eines wird in San Miniato ganz besonders großgeschrieben: Genuss. Bekannt ist die Stadt nämlich nicht nur für ihre Lederwaren, sondern auch für ihre Weine, Olivenöle – und vor allem für ihre Trüffel. „Das Thema Trüffel hat für San Miniato eine große Bedeutung. Da hängt viel dran, zum Beispiel auch die Zucht von Trüffelhunden oder eben der Verkauf von Trüffelprodukten“, sagt Tobias Garst. „Und damit all das funktioniert, müssen die Wälder ringsherum intakt sein. Der Naturschutz liegt dem wirtschaftlichen Erfolg zugrunde.“
Einmal im Jahr kommt die langsame Stadt San Miniato dann richtig in Bewegung: Das Trüffelfestival im November zieht Tausende von Feinschmeckern aus aller Welt an. „Dort herrscht eine richtige Volksfestatmosphäre, überall gibt es Stände mit lokalen Spezialitäten, es liegen frische Trüffelknollen aus, zwischendurch gibt es kleine Konzerte und Theateraufführungen“, erzählt Tobias Garst. Im Mittelpunkt des Spektakels steht übrigens nicht irgendein Trüffel, sondern der weiße Wintertrüffel. Er ist besonders selten und exquisit, wächst in den Wäldern rund um San Miniato – und verhilft dem Städtchen damit zu einer Poleposition in Sachen Genuss. Ganz wie es sich für eine Cittaslow gehört.
Außerdem wissenswert:
Auch in Deutschland gibt es Cittaslow-Städte – aktuell sind es 21, darunter Überlingen am Bodensee, Nördlingen in Bayern und Meldorf an der Nordsee.
Cittaslow steckt manchmal im Detail – etwa in den ausrangierten Campingstühlen, die im italienischen San Vincenzo auf müde Spaziergänger warten, oder in der öffentlichen Zeichenstunde auf dem Marktplatz, zu der sich die Bürger des fränkischen Hersbruck vor einiger Zeit versammelten.
Die Ziele von Cittaslow (Auszug aus der Satzung):
- nachhaltige Stadtentwicklung
- Erhalt von regionaltypischen Stadtbildern und Kulturlandschaften
- Verbesserung der Umweltqualität
- Förderung und Erhalt regionaler Wirtschaftskreisläufe
- Förderung regionaler Besonderheiten und Produkte
- Förderung von Regionalbewusstsein
- Gastfreundschaft und internationaler Austausch
- kulturelle Traditions- und Brauchtumspflege
- Geschmack und Qualität der Ernährung, Förderung traditioneller Esskultur
- Lebensfreude, Lebensqualität
- sozialer Zusammenhalt
Ein Palio in San Miniato – gibt es den nicht nur in Siena? Nein! Dieser Wettkampf zwischen den Vierteln einer Stadt ist in Italien häufig. Die berühmteste Veranstaltung ist zwar der Palio di Siena, aber auch die kleineren Varianten sind einen Besuch wert.
Einen kleinen filmischen Eindruck von San Miniato gibt es hier.