Die Gerber von Fes
Es ist früh am Morgen. Die Sonne steht noch so tief, dass kein Strahl in die engen Gassen von Fes dringt. Ahmed tunkt einen Brotfladen in einen Teller mit Rührei, Honig und Olivenöl – ein Powerfrühstück für den Gerber, das ihm Kraft für den anstrengenden Arbeitstag geben soll.
Fes, die älteste der vier Königsstädte, ist berühmt für ihr Lederhandwerk, das im Gerber-Souk Chouara noch so betrieben wird wie vor hunderten Jahren. „Als ich 12 oder 13 war, so genau weiß ich das nicht mehr“, sagt Ahmed, „habe ich hier angefangen.“ Nein, in die Schule sei er nicht gegangen. „Als Gerber musst du handwerklich geschickt und körperlich fit sein. Nur darauf kommt es an.“ Der mittlerweile 70-Jährige hatte damals mangels Schulbildung keine Wahl, doch seinen Beruf machte er von Anfang an gerne. „Meine Arbeit ist hart, aber ich verdiene bis zu 1000 Euro im Monat. Das ist gutes Geld.“ Seine fünf Kinder konnte er zur Schule schicken. Von der ältesten Tochter Fatima zeigt er voller Stolz ein Foto. „Sie lebt in Casablanca und ist Schauspielerin.“ Wenn die Serie im Fernsehen läuft, schaut das ganze Viertel und freut sich, dass Fatima „es geschafft hat“. In die Großstadt, meint Ahmed damit, wo sie Geld verdient und sogar so viel, dass sie die Familie zu Hause unterstützen kann.
Heute ist ein besonderer Tag, denn es hat sich Besuch aus Deutschland angesagt. Aus dem bayerischen Landsberg am Lech. Kai-Uwe Möschler betreibt dort eine Lederwerkstatt. „So wie vielleicht alle kleinen Jungs war ich verrückt nach Indianern“, erzählt der 41-Jährige. „Aber bei mir hat es nicht aufgehört.“ Mit 15 Jahren war er zum ersten Mal in Amerika, dann immer wieder. Bei den Indianern und Trappern hat er das Lederhandwerk gelernt. „Dort habe ich wahnsinnig viel Erfahrung sammeln können“, sagt Kai. „Ich bin Autodidakt und besonders stolz, dass ich in Deutschland trotzdem ausbilden darf – auch wenn es eine lange bürokratische Prozedur war.“ Über Facebook erfährt er, dass der Fernsehsender ProSieben für die Serie „Culture Clash“ einen Freiwilligen sucht, der in Fes eine Woche lang im Gerberviertel mitarbeiten will. Stundenlang in Tierurin und Taubenkot herumwaten? Körperliche Schwerstarbeit? Bei ekelerregendem Gestank? „Ich bin ein Abenteuertyp“, sagt Kai. „Diese Chance wollte ich mir nicht entgehen lassen.“
Ahmed und seine Kollegen begrüßen den Deutschen mit der für Marokko so charakteristischen Gastfreundschaft – sehr herzlich und natürlich mit einer Tasse Thé à la Menthe, dem typischen Minztee. „Nachdem wir uns gegenseitig Fotos von unseren Familien gezeigt hatten, wollten sie dann gleich mal testen, was der Fremde so drauf hat“, erinnert sich Kai grinsend. An den Ohren hielten sie ihm das Abendessen vor die Nase – einen Hasen, dem er das Fell abziehen sollte. „Die Bewährungsprobe bestand ich. Das habe ich zig Mal bei den Trappern gemacht.“
Während Kai in Deutschland gemütlich am Computer nach Werkzeug sucht und beim Großhändler fertig gegerbtes Leder kauft, ist Ahmed auf den Fellmarkt außerhalb der Stadtmauern von Fes angewiesen. Die frischen Häute von achtzig Prozent aller geschlachteten Tiere Marokkos, darunter Rinder, Kamele und Schafe, landen auf diesem Markt. In lautstarken und durchaus aggressiv anmutenden Verhandlungen ergattern die Gerber hier die besten Stücke. „Trotz des Gestanks ein Schlaraffenland für jeden Ledermacher“, findet Kai. Per Rupfprobe testet Ahmed, ob das Ziegenfell seinen Ansprüchen gerecht wird. Lassen sich die Haare schwer ausrupfen, ist das Leder robust – genau das, was Ahmed sucht. Denn das fertig gegerbte Leder möchte er später an einen Schuhmacher verkaufen, der daraus Babouches macht – die typischen orientalischen Pantoffeln. Nach einigem Feilschen bezahlt er zwei Euro pro Fell. Die Ware lässt er sich per Esel durch die engen Gassen direkt ins Gerberviertel liefern, das mitten in der Medina liegt.
El-Bali, die Altstadt von Fes, ist die größte Medina im ganzen arabischen Raum und seit 1981 UNESCO-Welterbe. Die über zehn Kilometer lange Stadtmauer umschließt ein Labyrinth von zehntausend Gassen. Eine Fülle von Moscheen, Medresen und Karawansereien sowie die 859 von einer Frau gegründete Karaouine-Universität – die älteste der Welt – zeugen von einer bedeutenden Vergangenheit.
Doch im Laufe der Jahrhunderte bröckelten die Fassaden und die Altstadt verkam zum Armenviertel. Dank privater Mäzene wurden einzelne historische Gebäude renoviert, der Rest war dem Verfall preisgegeben. Immer mehr Fassi, so nennen sich die Altstadtbewohner, zogen in die Neubaubezirke um. Nur ein Bruchteil der Handwerker, so wie Ahmed, blieb. „Zum Teil sind Häuser einfach eingestürzt und haben Menschen unter sich begraben, weil sie so baufällig waren“, erzählt Ahmed. „In den 1980er Jahren haben sie dann endlich damit angefangen, die Medina zu retten.“
Tatsächlich handelt es sich um das größte Sanierungsprojekt in ganz Marokko. Die unter staatlicher Aufsicht stehende „Agentur für die Entwicklung und Rehabilitation der Medina“ entwickelte 2013 einen Fünfjahresplan, der den baulichen Zustand der Altstadt erfasste und dann die akut einsturzgefährdeten Bauwerke von Grund auf sanierte. Eine Kläranlage hauchte dem biologisch toten Fluss Fes ein zweites Leben ein, seine Ufer schmücken jetzt Promenaden.
Das Gerberviertel Chouara sieht noch genauso aus wie vor Jahrhunderten, obwohl die unzähligen Becken, die aus der Vogelperspektive einem überdimensionalen Farbmalkasten ähneln, auch saniert wurden.
Ahmed steht mit Gummistiefeln in einem Bottich, gefüllt mit einer aggressiven Mischung aus Wasser und Vogelkot, die das Fell aus der Tierhaut lösen soll. „40 Grad Hitze, ein beißender Gestank und die gebückte Haltung, weil du vornübergebeugt die Tierhaut mit den Händen walkst“, sagt Kai. „Das ist echte Schwerstarbeit.“ Es folgen weitere Arbeitsgänge in weiteren Becken, mal gefüllt mit Brühen aus Kalk, mal aus Lehm und Getreide. „Auf jeden Fall alles rein biologisch“, betont Ahmed und stampft zusammen mit Kai die Tierhaut mit nackten Füßen, damit sie weicher wird. Nur noch die Gerber in Chouara gerben traditionell, moderne Gerbereien setzen inzwischen auf chemische Mittel. Doch auch das biologische Gerben ist gesundheitsschädlich: Taubenkot zum Beispiel ist ätzend und enthält viele Bakterien, die nicht in offene Wunden gelangen sollten. Eine Schutzkleidung gibt es trotzdem nicht, genauso wenig wie eine Krankenversicherung oder Altersvorsorge.
Umso erstaunlicher findet Kai, dass Ahmed „fit wie ein Turnschuh“ ist. „Während ich schon nach einem Tag Arbeit Rückenschmerzen und Muskelkater hatte, klagt Ahmed über keinerlei Wehwehchen. Auch nach fast 60 Jahren Arbeit hier.“ Jeder Gerber hat seine eigene Methode, fit zu bleiben. Die einen gehen regelmäßig ins Hamam, wo sie nicht nur baden, sondern sich auch ausgiebig massieren lassen. Die anderen halten sich mit Boxen fit. Ahmed fährt regelmäßig raus aus der Stadt. „In den Bergen gehe ich Kilometer weit“, sagt er. „Da kann ich am besten entspannen.“ Außerdem ist auch während der Arbeit immer Zeit für eine Pause: um eine Zigarette zu rauchen, Tee zu trinken oder hin und wieder, wenn die Sonne zu stark vom Himmel brennt, ein Nickerchen zu machen.
Für seine Kinder wünscht sich Ahmed dennoch einen anderen, einfacheren Beruf – auch wenn er traurig ist, dass sein Handwerk aussterben wird. „Die jungen Leute scheuen die schwere körperliche Arbeit, gehen in die Großstädte und wollen zum Beispiel im Tourismus arbeiten“, sagt Ahmed. „Traditionelle Gerber wie mich wird es bald nicht mehr geben.“ Kai sieht das ganz entspannt. Ob sein Sohn mal in seine Fußstapfen treten und die Werkstatt in Landsberg übernehmen will? „Keine Ahnung“, meint er und zuckt mit den Achseln. „Im Moment steht er auf jeden Fall nicht auf Indianer, sondern auf Ritter.“
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Kalif Idriss I. hatte Fes Ende des achten Jahrhunderts gegründet. Als wohlhabende Familien aus Tunesien und Andalusien im 9. Jahrhundert Zuflucht in Fes suchten, weil sie von den jeweiligen Machthabern aus ihrer Heimat vertrieben wurden, profitierte die Stadt von dem mitgebrachten Wissen und handwerklichen Fähigkeiten der Flüchtlinge und erlebte eine enorme Blüte. Bis heute gilt Fes als geistiges Zentrum Marokkos.
Ahmed grinst, wenn er Touristen begegnet, die sich Pfefferminzblätter unter die Nase halten. „Wenn man wie ich sein ganzes Leben hier verbringt, stört einen der Geruch nicht mehr.“
Besonders beliebt ist Gelb, das aus Granatapfel, Salz und Urin zusammengemischt wird. Das gefärbte Leder ist hart. Mit einer halbmondförmigen Sichel muss das Leder nochmals abgeschabt werden, um es weich zu machen. „Für mich der anstrengendste Part der vielen Arbeitsschritte“, sagt Kai. Die kleinste Unachtsamkeit mit dem scharfen Werkzeug kann das Leder beschädigen – dann war die wochenlange Prozedur vergeblich.