Nahaufnahme Eisbären-Alarm
Schneebedeckte Tundra, so weit das Auge reicht. Auf dem Wasser der Hudson Bay treiben die ersten Eisschollen, es pfeift ein eisiger Wind. In der kanadischen Provinz Manitoba kündigt sich der Winter an. Monika und ihr Mann Karl kleben, wie auch die anderen Touristen, mit ihren Nasen an den Fensterscheiben des Shuttlebusses, der sie vom ehemaligen Militärflughafen nach Churchill bringt. Was es in der kargen Landschaft zu sehen gibt?
Eisbären. Massenhaft Eisbären! Dass sie jedes Jahr zwischen Ende Oktober und Anfang Dezember zu Hunderten kommen, verdankt das am Rand der Arktis gelegene Churchill vor allem dem gleichnamigen Fluss, der hier in die Hudson Bay mündet.
Mit seinem Süßwasser sorgt der Churchill River dafür, dass das Meer schneller als anderswo gefriert. Sobald die Bucht mit einer Eisschicht überzogen ist, bietet sie den Eisbären, die von den langen Sommermonaten ausgehungert sind, bestes Terrain, um ihre Lieblingsspeise zu jagen: Ringelrobben.
„Willkommen in der Eisbären-Hauptstadt der Welt“, begrüßt der Busfahrer seine Gäste und erklärt ihnen auch gleich, warum Churchill dieser Titel gebührt. „Nur auf der Insel König-Karl-Land vor Spitzbergen und auf der russischen Wrangelinsel gibt es ähnlich viele Eisbären, aber beide Inseln sind unbewohnt. Unsere Eisbären kommen in die Stadt. Mal triffst du sie im Garten, mal beim Einkaufen!“ Im gleichen Atemzug fügt er hinzu: „Keine Sorge. Wenn ihr euch nicht allein auf der Straße herumtreibt oder ein Picknick in der Tundra veranstaltet, dann passiert euch nichts. Das letzte Todesopfer durch eine Eisbärenattacke gab es 1983.“
Die größten Landraubtiere der Welt – sie werden bis zu 800 kg schwer und 3,50 m groß, wenn sie sich auf die Hinterbeine stellen – leben ausschließlich in den Polarregionen auf der nördlichen Halbkugel. Schätzungen zufolge gibt es noch 20.000 bis 25.000 Eisbären, 16.000 davon leben in Kanada, und mehr als 1000 sind in der Umgebung von Churchill zu Hause. Das „Polar Bear Watching“ ist die wichtigste Touristenattraktion in der gesamten Provinz Manitoba. Damit den Gästen und Einheimischen nichts passiert, hat Churchill einige Maßnahmen ergriffen: Es gibt keine Mülltonnen in den Straßen, bewaffnete Ranger patrouillieren Tag und Nacht, Warnschilder raten von Spaziergängen ab. Stattdessen soll man die angegebene Telefonnummer anrufen, wenn man im Vorbeifahren einen Eisbären entdeckt. Dann rückt die Bärenpolizei aus, vertreibt die Tiere mit Warnschüssen – oder betäubt sie, um sie ins „Gefängnis“ zu schaffen.
Als der Shuttlebus den ausgedienten, zum Bärenknast umfunktionierten Militärhangar passiert, fährt gerade ein Pickup der Conservation Manitoba vor. Auf dem Anhänger befindet sich eine mobile Falle samt Inhalt. „Die Eisbär-Mutter und ihr Junges haben an einem Schnellimbiss herumgelungert, als wir sie erwischt haben“, erzählt ein Ranger den Touristen. „Unsere Bärenfallen sind mit Robbenfellen präpariert – den Duft fanden die beiden noch leckerer als den von Burgern.“
Was nun mit der kleinen Familie passiert, will Monika von den Männern wissen. „Keine Sorge, sie bleiben in einer der 28 Zellen, bis die Bucht zugefroren ist. Dann fliegen wir sie mit dem Helikopter möglichst weit weg, und sie können endlich
auf Robbenjagd gehen.“ Mutter und Baby teilen sich eine Gemeinschaftszelle, ansonsten ist Isolationshaft angesagt, weil hungrige Bären zu Kannibalismus neigen. Futter gibt es nicht, nur Wasser. „Wenn wir die Bären füttern, animiert es sie, wiederzukommen“, erklärt der Ranger.
Eisbären gelten als äußerst gefährlich, vor allem, wenn sie sich über den Sommer mehr schlecht als recht von Beeren oder Gräsern ernähren. Der Bärenknast bietet aber bei Weitem nicht Platz für alle Eisbären, die sich in und um Churchill aufhalten. Weggesperrt werden nur diejenigen, die den Rangern besonders aggressiv oder neugierig erscheinen. Mit den restlichen freilaufenden Artgenossen arrangieren sich die Einheimischen. Kaum jemand verlässt das Haus ohne Steine in der Jackentasche. Ein gezielter Wurf reicht meistens, um einen Eisbären abzuschrecken. Falls nicht, helfen Pfefferspray oder eine Schreckschusspistole. Einige Bewohner besitzen auch Schrotgewehre. „Ich habe meins noch nie eingesetzt“, sagt der Ranger. „Eigentlich sind Eisbären an Menschen nicht interessiert. Aber wenn sie abgemagert sind, müssen sie fressen, um zu überleben. Nur deshalb kommen sie uns besuchen!“
Zum Glück gibt es in dem Ort während der Bärensaison die „Tage der offenen Tür“. Praktisch jeder hält sich an das ungeschriebene Gesetz, Haus- und Autotüren Tag und Nacht nicht abzuschließen. Bei einer unliebsamen Begegnung kann der Sprung in ein geparktes Auto oder einen Flur schließlich lebensrettend sein. „Den Eisbären verdanken wir nicht nur unsere Besucher, sondern auch, dass wir uns gegenseitig vertrauen“, meint der Ranger grinsend. Hundertprozentig vertrauen können Monika, Karl und die anderen Touristen Marc Hebert und seinem Tundra Buggy, als sie am nächsten Morgen zu einer Bärenbeobachtungstour aufbrechen. Der 45-Jährige war schon als Zodiac-Driver in der Arktis und Antarktis unterwegs, arbeitete als Hundeschlittenführer und Rafting-Guide, hat also viel Erfahrung mit der Wildnis – und mit Eisbären. Seit mehr als zehn Jahren fährt er das Monster-Vehikel für Frontiers North Adventures.
„Ganz klar, dieser Job übertrifft alle meine Erwartungen, die ich anfangs hatte“, sagt Marc und fragt dann in die Runde: „Oder kennt ihr ein besseres ‚Büro’ als meins?“ Sein „Büro“ ist ein Geländebus mit überdimensionalen Reifen und Platz für 40 Passagiere. Statt einer Motorhaube gibt es im Mittelgang eine Klappe im Boden. Bei einer Panne kann der Fahrer von innen den Motor inspizieren und reparieren. Wer steigt schon gerne aus, wenn draußen hungrige Eisbären lauern?
Mit einem kräftigen Tritt auf das Gaspedal setzt Marc den Zehn-Tonnen-Koloss in Bewegung. Der Tundra Buggy wälzt sich durch Pfützen und Schlaglöcher, der Permafrostboden zerbirst unter den schweren Reifen. Selbst größere Felsbrocken sind kein Hindernis. Im Gelände liegt die Maximalgeschwindigkeit bei 15 Stundenkilometer – auf Schnelligkeit kommt es nicht an, denn sonst würden die Eisbären die Flucht ergreifen.
So aber reagieren die weißen Pelztiere neugierig. Als Marc stoppt, trottet ein junges Männchen heran, stützt sich mit seinen mächtigen Pranken an der Karosserie ab und fixiert die Menschen hinter den Schiebefenstern. Während Karl bei Marc nervös nachfragt, ob die Scheibe auch sicher hält, falls der Bär hochspringen sollte, fotografiert Monika, was das Zeug hält.
Seit durch den Klimawandel das Meereis schrumpft und die Eisbären kaum noch erfolgreich jagen können, kommen sie den Menschen immer näher. Das ist nicht nur für die Menschen gefährlich, sondern auch für die Eisbären. Kanada ist das einzige Land, das die Eisbärenjagd und den Handel mit ihnen für kommerzielle Zwecke erlaubt. „In der Jagdsaison 2015/16 wurden in Kanada 540 Tiere erlegt“, sagt Daniela Freyer von Pro Wildlife e. V. „Aktuellere Zahlen gibt es nicht, da die Regierung die Abschusszahlen nicht transparent macht.“ Besonders kritisiert die Diplom-Biologin und Mitbegründerin der Tierschutzorganisation den florierenden Handel mit Eisbärfellen: „Die Felle von fast 300 Tieren exportiert Kanada jedes Jahr – als Bettvorleger, Eisbärmütze
oder Trophäe.“
Die Jagd auf Eisbären ist in Kanada nur für die Inuit erlaubt. Doch diese dürfen ihre Abschusslizenzen auch an Touristen verkaufen. „Trophäenjäger aus Deutschland, Russland und anderen Ländern können für ca. 40.000 Euro ganz legal einen Eisbären töten“, erklärt Freyer. „Im Visier haben sie ausgerechnet die Tiere, die am größten und stärksten sind – und die für die Fortpflanzung und das langfristige Überleben des Bestandes am wichtigsten sind.“
Was Buggyfahrer Marc von diesem Thema hält, wollen seine Passagiere wissen. „Ich respektiere einerseits, dass die Eisbärenjagd zur jahrhundertealten Kultur der Inuit gehört“, meint er. Viel schlimmer sei der Klimawandel, der das Eis des Polarmeeres – Jagdrevier und Kinderstube der Eisbären – unter ihren Tatzen wegschmelzen lasse. Ausgemergelte Bären, sinkende Geburtenraten und eine hohe Sterberate der Jungtiere seien die Folge. „Leider schenken die Inuit den dramatischen Zahlen der Wissenschaftler kein Gehör“, sagt Marc. „Sie halten den Bestand für stabil, vielleicht auch, weil es auch bei ihnen ums Überleben geht.“ Indem sie Abschusslizenzen verkaufen und Trophäenjäger begleiten, sichern sie die Existenz ihrer Familie.
Dennoch ist Marc der Meinung, dass sich der Klimawandel und die Jagd nicht vertragen und Kanada die Jagd auf Eisbären verbieten sollte. Viele Einwohner aus Churchill denken ähnlich, zumal ihr Ort ohne Eisbären wohl nicht mehr existieren würde. In den 1980er Jahren wurde die ansässige Militärbasis geschlossen, Tausende verloren ihre Arbeit und zogen weg. Die, die blieben, leben heute von Touristen aus aller Welt. Zum Glück von solchen, die kommen, um Eisbären zu beobachten und nicht, um sie zu töten.