Paradies für Einhörner - Hightech-Standort Israel
Connor sitzt zusammen mit seinen Eltern in The Dome, einem Grillrestaurant in Edinburgh.Mit dem Zeigefinger fährt er die Speisekarte rauf und runter, dann bestellter. Was für andere 15-Jährige ganz normal ist, treibt seiner Mutter Tränen in die Augen. Denn Connor kann nicht lesen: Er ist seit seiner Geburt blind.
Mit dem Feuerzeug großen Aufsatz MyEye der israelischen Firma Orcam auf seiner Brille hat sich das Leben des Teenagers dramatisch verbessert. „Die Kamera erfasst das, worauf ich zeige“, erklärt Connor. „Und flüstert es mir dann ins Ohr.“ Er lässt sich die ganze Karte vorlesen und ist das erste Mal in seinem Leben nicht auf Vater und Mutter angewiesen. „Was für ein unbeschreibliches Gefühl, selbstständig einen Burger zu bestellen!“
Erfunden haben den 22 Gramm leichten Brillenaufsatz, bestehend aus einem Mikroprozessor, einer Kamera und einem Lautsprecher, zwei Israelis. Wirtschaftsingenieur Ziv Aviram und Amnon Shashua, Ex-Professoran der Hebräischen Universität in Jerusalem, verbindet eine beispiellose Erfolgsstory. Sie beginnt mit dem Start-up Mobileye, das die beiden Männer 1999 gründen. Dank der von ihnen entwickelten speziellen Kamera in Kombination mit künstlicher Intelligenz erkennt das Fahrerassistenzsystem Gefahren auf der Straße und kann so Verkehrsunfälle verhindern.
Mobileye schreibt als erstes Einhorn der israelischen Wirtschaft Geschichte. „Ein sogenanntes Einhorn ist ein Start-up, dessen Wert Investoren auf mehr als eine Milliarde Dollar schätzen“, erklärt Charme Rykower, Leiterin der Abteilung für Hightech an der Deutsch-Israelischen Auslandshandelskammer (AHK). 2014 wird Mobileye mit 4,2 Milliarden Dollar an der Börse notiert und später für sagenhafte 15,3 Milliarden Dollar an der Börse notiert und später für sagenhafte 15,3 Milliarden Dollar vom US-Chipgiganten Intel gekauft.
Doch Aviram und Shashua geben sich mit diesem Super-Deal nicht zufrieden, im Gegenteil: Er spornt sie an, ein neues Start-up namens Orcam zu gründen. Sie modifizieren die von ihnen entwickelte Kameratechnologie für den Brillenaufsatz MyEye, den auch Connor trägt. „Das wird das Leben von fast zwei Milliarden Menschen ändern“, prophezeit Aviram im Interview mit dem Schweizer Wirtschaftsmagazin BILANZ. Die Zielgruppeseien nicht nur Blinde und Menschen mit eingeschränktem Sehvermögen, sondern auch Analphabeten.
Das Gerät liest Bücher und Zeitungen vor, sagt, ob Ampeln rot oder grün sind, erkennt Personen und Geldscheine, Lebensmittel und Kleidungsstücke. Mittlerweile wird MyEye in 37 Ländern vertrieben, für einen Stückpreis von rund 4500 Euro. Weil den Löwenanteil der Kosten die Krankenkassen übernehmen, schnellen die Verkaufszahlen in die Höhe. Seit Februar 2018 haben Aviramund Shashua ihr zweites Einhorn.
Weltweit gilt Israel, das gerade einmal die Größe von Hessen und nur neun Millionen Einwohner hat, als bestes Pflaster für Start-ups. „Aktuell sind es 7500“, sagt Charme Rykower von der AHK. „Allein im Raum Tel Aviv konzentrieren sich 1500 junge Unternehmen, Tendenz steigend.“ Israel sei selbst ein Start-up, aus dem Nichts entstanden. „Seit der Staatsgründung sahen wir uns mit Boykotten konfrontiert. Handel mit der Welt zu betreiben, war schwierig.“ Also setzte die Nation auf Software und nicht auf Hardware, deren Export deutlich problematischer gewesen wäre.
Enorme staatliche Investitionen in Bildung und Forschung sorgen dafür, dass kein Land der Welt über eine höhere Dichte an Wissenschaftlern verfügt. Deren Wirkungsstätten sind acht Universitäten, 30 Hochschulen und über 300 Forschungs- und Entwicklungszentren. Jedes Jahr kommen etwa 20 neue Zentren hinzu. Bereits die Schulen bereiten ihre Schüler auf Hightech-Karrieren vor: Mathematik und Informatik bilden Schwerpunkte, ab der Mittelstufe wird Cybersecurity unterrichtet. Begabte Schüler haben die Möglichkeit, schon vor ihrem Schulabschluss regelmäßig die Universität zu besuchen.
Was für die Amerikaner „Silicon Valley“ in Kalifornien ist, ist für die Israelis ihr „Silicon Wadi“ mit den wichtigsten Standorten Tel Aviv, Jerusalem, Haifa und neuerdings Be’er Sheva in der Wüste Negev. Das enorme Wachstum der Hightech-Industrie wäre undenkbar ohne staatliche Unterstützung: Steuerbegünstigungen und reichlich Risikokapital. Unbürokratisch stellt der israelische Staat Jungunternehmern Geld zur Verfügung, um ihnen den Start zu erleichtern. 2018 waren es 6,5 Milliarden Dollar Venture Capital, rund eine Milliarde mehr als im Vorjahr und mehr als in Deutschland, Österreich und der Schweiz zusammen.
Seit Jahrzehnten begünstigen diese idealen Bedingungen geniale Erfindungen: Die erste Antivirus-Software für Computer ist ebenso eine israelische Erfindung wie die Voicemail-Technologie, der USB-Stick und die ersten 3D-Drucker. Als Pionier der Tröpfchenbewässerung gilt die Firma Netafim, die mit ihren Bewässerungssystemen die Landwirtschaft revolutioniert hat. Angesichts zunehmender Hungerkatastrophen in Entwicklungsländern ist auch die von Professor David Levy von der Hebräischen Universität Jerusalem gezüchtete Kartoffelsorte eine Sensation: Sie kann in heißem, trockenem Klima wachsen und mit Salzwasser bewässert werden.
Dagegen mag die Erfindung des Start-ups Lightricks mit Hauptsitz in Jerusalem banal wirken, erfolgreich ist sie allemal. Ihr Produkt Facetune ist auf dem besten Weg zum nächsten israelischen Einhorn. Promotet von Prominenten wie Katy Perry begeistert die App, mit der man nachträglich sein Aussehen aufhübschen kann, Millionen der Selfie-Generation. Firmengründer sind ein paar Studenten und der 39-jährige Informatikprofessor Zeev Farbman, die ihre Ideenschmiede auf dem Campus der Jerusalemer Uni in den ehemaligen Schlafsälen der Studenten eingerichtet haben. Die Prognosen sind überragend: 2019 wird sich der Umsatz auf 120 Millionen Dollar mehr als verdoppeln.
Qualifizierte Mitarbeiter zu rekrutieren, stellt nicht nur für Lightricks, sondern für die meisten Start-ups das größte Problem dar. Dabei sitzt Zeev Farbmanim Beirat der Informatikfakultät und als Professor an der Quelle. Besonders begabte Studenten können sich bequem einen Einblick in die Arbeit von Lightricks verschaffen – sie müssen dazu nicht einmal den Campus verlassen. „Der fehlende Nachwuchs wird die vielleicht wichtigste Herausforderung in der Zukunft“, prophezeit auch Charme Rykower. „Wir müssen es schaffen, neue Bevölkerungsgruppen zugewinnen. Zum Beispiel Araber, ultraorthodoxe Juden und religiöse Frauen. Sie alle profitieren derzeit gar nicht vom Start-up-Boom – und umgekehrt!“
Die mit Abstand wichtigste Quelle für israelische Start-ups, Mitstreiter und Kollegen zu finden, ist das Militär. Paradebeispiel ist Lighticks: Vier der fünf Gründer haben sich in der Armee kennengelernt. Mit 18 Jahren leistet jeder Israeli Wehrdienst, Frauen für zwei, Männer für drei Jahre. Danach bleiben die Soldatinnen und Soldaten 25 Jahre lang Reservisten und pflegen ein lebenslanges Kontaktnetz. „In der israelischen Armee müssen bereits 18-Jährige lebensbedrohliche Situationen meistern, ohne lange zu überlegen über Leben und Tod entscheiden“, erklärt Rykower.„Die Hierarchien sind flach – das Militärmacht junge Menschen zu Decision Makers.“ Auch Ziv Aviram bestätigt: „Die Führungserfahrung, die man dabei gewinnt, ist unbezahlbar fürs Geschäftsleben.“
Natürlich sind nicht alle Unternehmer so erfolgreich wie Aviram mit seinen Einhörnern Mobileye und Orcam – 96 Prozent scheitern. Scheitern? „Es würde uns Israelis nicht einfallen, von ‚scheitern’ zu sprechen“, erklärt Charme Rykower. „Niemand wird hier als Versager abgestempelt. Wenn etwas nicht klappt, verbuchen wir das unter Erfahrung sammeln. Und versuchen es noch einmal.“ Vorzeigeunternehmer Ziv Aviram bestätigt dem Wirtschaftsmagazin BILANZ, dass für ihn Pioniergeist und Mut mehr zählen als alles andere: „Ich würde eher jemanden anstellen, der schon in zwei Firmen gescheitert ist, als einen, der es noch nicht probiert hat.“
Zur israelischen Mentalität passt es auch nicht, sich auf Erfolg auszuruhen. Die Multimillionäre Aviram und Shashua sind der beste Beweis dafür. Sie hätten sich nach dem finanziellen Coup mit Mobileye einfach zur Ruhe setzen können. Welch ein Glück für den schottischen Teenager Connor und Millionen andere, die blind oder sehbehindert sind, dass sie es nicht getan haben. „Die sprechende Brille hat mir ein neues Leben geschenkt“, sagt Connor und zeigt auf eine Dose vor ihm, die er nur fühlen, aber nicht sehen kann. „Coca Cola“, flüstert ihm MyEye ins Ohr und zaubert dem Teenager ein Lächeln ins Gesicht.