Auf dem Baegisa-Hof
In Baegisa beginnt der Tag um sieben Uhr morgens im Stall: Ein Lamm saugt begierig an seinem Milchfläschchen, zwei Kühe müssen gemolken werden, die Kälbchen werden gefüttert. Aber wo sind die anderen Schafe? „Im Sommer sind die Tiere auf der Weide in den Bergen“, erklärt Elisabeth Zitterbart, die den Hof mit ihrem Mann Stefán seit 1994 führt. „Die Schafe leben dort ganz autark, man muss sich um sie so gut wie nicht kümmern. Aber es wird uns trotzdem nicht langweilig. Die Sommer sind kurz, und da gibt es jede Menge anderes zu tun: Heu machen, Beeren pflücken, Reparaturen am Haus durchführen, Gäste betreuen.“ Ab Oktober stehen dann alle 400 Schafe im Stall, und im Frühjahr kommen noch einmal 600 neugeborene Lämmer dazu - viele Schafe bekommen zwei Lämmer.
Mit Nonni nach Island
Das Leben als Bäuerin – schon gar nicht in Island – war Elisabeth nicht in die Wiege gelegt. „Ich bin in Bayerisch Schwaben geboren und aufgewachsen, in einem kleinen Ort am Rand des Nördlinger Rieses. Dass ich einmal auf Island Schafe züchten würde, darauf wäre ich als junges Mädchen nie gekommen. Allerdings haben mich schon früh die Nonni-Bücher von Jón Sveinsson fasziniert, die mir meine Oma vorgelesen hat. ‚Nonnis Abenteuer auf Island‘ oder ‚Nonnis Jugenderlebnisse auf Island‘ lauteten die Titel. Vielleicht hat mich das unbewusst beeinflusst, so dass ich nach dem Abitur als Au-pair nicht wie andere nach England oder Frankreich gegangen bin, sondern nach Island.“
Während Elisabeth über den Hof führt, erzählt sie weiter. Nach ihrem Au-pair-Jahr sei sie erst einmal zu einer Krankenpflege-Ausbildung nach Deutschland zurückgekehrt. Aber schon gleich nach bestandener Prüfung ist sie erneut nach Island aufgebrochen und hat dort erst in einem Krankenhaus in Stykkisholmur im Westen und dann in einer Klinik im Norden, in Akureyri, gearbeitet. Was sie damals wieder nach Island gezogen hat?
Viiiiel Platz!
„Ich fühlte mich schon als Au-pair sofort wohl hier. Die Isländer sind sehr offen, neugierig auf Fremde, ohne Vorurteile. Es ist natürlich eine andere Offenheit als etwa die der Italiener, mit denen man sofort ins Reden kommt und sich nach einer halben Stunde wie ein Familienmitglied fühlt. Isländer brauchen da etwas länger, sind aber nicht weniger herzlich. Und dann ist da natürlich noch die großartige Natur, diese Weite. Es ist so viel Platz für jeden da, um sich zu verwirklichen, um sein eigenes Ding zu machen. Platz im räumlichen Sinne, aber auch Platz im gesellschaftlichen und psychologischen Sinne. Man lässt die Leute hier machen und verurteilt sie nicht vorschnell. Man darf hier auch mal ausprobieren. So wie den Hof hier.“
Elisabeth lernt in Akureyri ihren Mann Stefán kennen und schon bald beschließen sie, einen Bauernhof zu kaufen und Schafe zu züchten. Für Stefán erfüllt sich damit ein Traum: Er hatte die Landwirtschaftsschule absolviert, vorher schon mit seinem Bruder den Hof gepachtet. Nachdem sein Bruder ausgestiegen war, beschlossen Elisabeth und er, den Hof zu kaufen. Sie zieht von der Stadt aufs Land und lernt von ihrem Mann das Handwerk des Schafezüchtens. „Besucher aus Deutschland bewundern mich oft, wenn sie den Hof sehen, und fragen mich, wie ich das schaffe, so abgelegen zu wohnen. Aber für isländische Verhältnisse ist das gar nicht so einsam hier. Zu Fuß sind es nur ein paar Hundert Meter zum Nachbarn. Und vor der Tür führt die Ringstraße vorbei. Auf der ist man in einer viertel Stunde in Akureyri zum Einkaufen. Da gibt es ganz andere Gegenden auf Island, zum Beispiel in den Westfjorden, wo man im Winter fast gar nicht mehr wegkommt. Außerdem habe ich ja meine Familie hier, meinen Mann, meine vier Kinder – die allerdings jetzt schon alle flügge sind und in Reykjavik oder Dänemark studieren oder eine Lehre machen.“ Vier Kinder sind in isländischen Familien übrigens nichts Außergewöhnliches, erzählt Elisabeth. Island gehört neben Irland und Frankreich zu den europäischen Staaten mit der höchsten Geburtenrate.
Jetzt sind Elisabeths Kinder aus dem Haus, und vielleicht gab das ja den Ausschlag, vor drei Jahren ein Gästehaus zu bauen und so dafür zu sorgen, dass sich wieder mehr Leute auf dem Hof tummeln? „Ja, vielleicht. Aber ich muss gestehen, dass wir auch von dem Touristenboom, der vor einigen Jahren eingesetzt hat, profitieren wollten. Und ein weiteres wirtschaftliches Standbein schien uns auch nicht so verkehrt. Denn die Finanzkrise 2008 hatte gezeigt, wie schnell sich die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen ändern können.“
Kreditkarten am Limit
Elisabeth und ihr Mann sind damals, als Island vor dem Staatsbankrott stand und viele Isländer arbeitslos wurden, noch recht glimpflich davon gekommen. Das liegt auch daran, erzählt Elisabeth, dass sie, zumindest was ihr Verhältnis zu Geld betrifft, doch deutsch geblieben sei. „Ich bin eher sparsam veranlagt, lege Geld für schlechte Zeiten zurück, kaufe mir Dinge erst, wenn ich das Geld dafür habe.“ Da seien Isländer in der Regel ganz anders: Wenn sie etwas haben wollten – ein großes Auto, einen Flachbildfernseher, ein Boot –, dann werde sofort gekauft, oft auf Kredit. Die Kreditkarten seien hier meist bis ans Limit ausgereizt, und viele nähmen in den Sommermonaten einen zusätzlichen Job an oder zwei, um ihren Kontostand wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Und wenn dann mal so ein außergewöhnliches Ereignis wie damals die Finanzkrise oder jetzt die Corona-Pandemie eintrete, sehe es für viele schlecht aus, meint Elisabeth.
„Seit den Corona-Reisebeschränkungen habe auch ich kaum mehr Gäste und arbeite jetzt wieder halbtags als Krankenpflegerin in der Klinik in Akureyri. Das habe ich schon früher mal gemacht – da allerdings als Hebamme. Das ist übrigens in Island auch normal, dass man zwei oder drei Jobs hat, um über die Runden zu kommen. Das Leben ist teuer. Und es ist auch gang und gäbe, dass man als Frau arbeitet. Nur-Hausfrauen, wie man sie in Deutschland ja immer noch findet, gibt es auf Island quasi nicht. Und weil auch die Frauen arbeiten, helfen die Männer im Haushalt und bei der Kindererziehung fleißig mit. Fast alle nehmen drei Monate Elternzeit, um die Frauen zu entlasten, oder nehmen sich frei, wenn die Kinder krank sind, um sich um sie zu kümmern, während die Frau arbeitet.“
Dass im Moment kaum noch Touristen kommen, bedauert Elisabeth sehr. „Ich bin gern Gastgeberin, kümmere mich um meine Gäste, gebe ihnen Tipps – und erfahre von ihnen Interessantes aus aller Welt. Und sie wollen von mir wissen, wie das Leben in Island so läuft, wie man hier sein Geld verdient, wie man mit der Dunkelheit im Winter zurechtkommt.“
Verfilzte Winter
Und wie kommt man damit zurecht? „Na ja. Auch im Winter haben wir viel zu tun. Die Schafe sind ab September wieder im Stall, müssen gefüttert werden und geschoren. Mit einem Teil der Wolle spinne, stricke und filze ich – zum Beispiel Hausschuhe und Kuscheltiere, die ich dann verkaufe. Aber irgendwann wird es schon etwas eintönig – und die Einkaufsfahrt nach Akureyri wird zum Highlight der Woche. Man muss schon mit sich im Reinen sein, möchte ich sagen, um gut durch den isländischen Winter zu kommen.“
Aber dennoch hat es Elisabeth nie bereut, nach Island gezogen zu sein. „Ich fühle mich hier einfach pudelwohl. Ich bin schon öfter bei meinen Schwestern oder Freunden zu Besuch, und ich finde es dann immer schön, wieder in Deutschland zu sein, vermisse es aber auch nicht. Wenn mir etwas fehlt, dann die Apfel- und Zwetschgenbäume. Die wachsen hier in Island leider nicht. Zwar besitze ich noch den deutschen Pass, aber ich denke, in ein paar Jahren werde ich die isländische Staatsbürgerschaft annehmen. Denn im Alter hat man es in Island definitiv besser als in Deutschland – vor allem, wenn man nicht reich ist. Hier bekommt jeder, der es braucht, problemlos einen Platz im Pflegeheim. Der Staat übernimmt die Kosten, und die Versorgung ist sehr, sehr gut – das kenne ich aus meiner Tätigkeit als Altenpflegerin. Aber bis dahin dauert es ja noch ein Weilchen. Da wachsen hier noch einige Schafsgenerationen heran.“ Spricht’s und verschwindet im Stall – jetzt am Abend heißt es noch mal Kühe melken und Lämmer füttern.