Tiflis: Bestes Nachtleben!
Es ist kurz vor zwei Uhr am Samstagmorgen. Menschenmassen strömen zum Boris-Paitschadse-Nationalstadion im Herzen der Hauptstadt. Beinahe 55.000 Zuschauer fasst die Heimspielstätte von Dinamo Tiflis. Doch heute bestreiten weder der Hauptstadtclub noch die Nationalmannschaft ein Fußballspiel. Junge Leute aus Tiflis, aber auch immer mehr Touristen aus aller Welt, bilden in den Katakomben unter dem Stadion eine lange Schlange.
Hinter Gate 18 befindet sich das Bassiani, der Technokultclub der Stadt und mittlerweile einer der angesagtesten der Welt. Eine Stunde warten, bis man endlich drinnen ist? Die Clubbesucher nehmen die strengen Sicherheitschecks am Eingang gerne in Kauf. Getanzt wird zu harten elektronischen Rhythmen in einem ehemaligen Schwimmbecken. Das wurde noch zu Sowjetzeiten gebaut und stand jahrelang leer, bevor Tato Getia, Zviad Gelbakhiani und Naja Orashvil es zu dem legendären Club umbauten. Als die drei ihn 2014 eröffneten, hätten sie sich nicht träumen lassen, dass ihre Location einmal in einem Atemzug mit dem legendären Berliner Berghain genannt werden würde.
„Berlin is out, Tbilisi is in“, titelte gar das Forbes-Magazin 2018 und kürte die georgische Hauptstadt zur „most exciting city“ – zur aufregendsten Stadt des Jahres. Gründe dafür gibt es viele: Neben den monströsen Plattenbauten aus der Sowjetzeit realisieren Architekten seit den frühen 2000er Jahren ihre hypermodernen Entwürfe – ein Vermächtnis von Expräsident Micheil Saakaschwili, der Tiflis ein modernes Antlitz verpassen wollte. Das Ergebnis sind spektakuläre öffentliche Gebäude: Raststätten, Polizeistationen und Verwaltungsgebäude, aber auch die markant geschwungene Friedensbrücke über den Fluss Mtkwari.
Für Begeisterung sorgen auch Design-Hotels, die alte Sowjetbauten in trendige Locations verwandeln. Wie das Fünfsternehotel Stamba, das in einem ehemaligen Verlagshaus untergebracht ist und es auf die Liste der „World’s 100 Greatest Places“ des Time-Magazins geschafft hat. Das Stamba ist nicht nur Hotel für die Reichen, sondern auch Treffpunkt für die Kreativszene der Stadt, Ausstellungs- und Eventort.
Und dann sind da noch die Technoclubs wie das Bassiani – und das damit verbundene Nachtleben in Tiflis. „Für mich das beste der ganzen Welt“, sagt Patrick Bienert, Dokumentarfotograf aus München und Georgien-Kenner. „Das Soundsystem im Bassiani ist einfach unschlagbar, dazu kommen die Auftritte hochkarätiger internationaler DJs.“ Vor allem aber seien die Menschen hier so offen, so authentisch. „Man spürt einfach den Spaß am Feiern, am Feiern in einer großen Gemeinschaft Gleichgesinnter.“
Von einer großen Gemeinschaft Gleichgesinnter sind die Georgier außerhalb des Bassiani allerdings weit entfernt. Eine Spaltung geht nicht nur durch die Gesellschaft, sie geht oft durch ganze Familien. Das gilt für politische Themen wie den Beitritt zur Europäischen Union, nach dem sich die Jugend sehnt, während die ältere Generation nicht selten den guten alten Sowjetzeiten nachtrauert. Das gilt aber auch für soziale Themen wie Homosexualität. In Georgien ist Homophobie weitverbreitet. In einer 2017 durchgeführten Umfrage des US-Meinungsforschungsinstituts Pew Research Center sprachen sich 93 Prozent der Georgier dafür aus, dass Homosexualität in der Gesellschaft nicht akzeptiert werden sollte. Die Zahl belegt, dass darunter auch viele junge Leute sind.
Bestätigt fühlen sie sich durch die orthodoxe Kirche, zu der sich 84 Prozent der Georgier bekennen. Die versteht sich als Hüterin der Traditionen und konservativer Werte und macht Stimmung gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen und Lebensgemeinschaften. „Die Kirche verteufelt Schwule und Lesben als Gefahr für die traditionelle Familie“, sagt Bienert. „Die meisten Georgier sind sehr gläubig und vertreten die Meinung, die ihnen die orthodoxe Kirche predigt.“
Auch Clubs wie das Bassiani, das sich selbst als „Safe Space“ für die LGBTQ-Community propagiert, gehört zum Feindbild von Kirche und konservativer Gesellschaft. Wenn einmal im Monat die sogenannte Horoom Night speziell für die Schwulenszene stattfindet, ist besondere Vorsicht geboten. Besucher müssen sich vorher auf der Internetseite des Bassiani registrieren lassen. Mit Namen, Ausweisnummer und Facebook-Profil. Denn in der Vergangenheit kam es schon vor, dass bekennende Homophobe im Bassiani Randale machen wollten.
„In der letzten Zeit verbessert sich die Situation für Homosexuelle – wenn auch schleppend“, findet Fotograf Bienert, der Tiflis mehrmals jährlich besucht und viele Bekannte in der Szene hat. Nicht zuletzt, weil Georgien den Beitritt zur EU anstrebt, hat die Regierung 2014 Antidiskriminierungsgesetze erlassen. Seitdem ist die Ungleichbehandlung aufgrund der sexuellen Orientierung auf dem Arbeitsmarkt verboten. Verbrechen sollen härter bestraft werden, wenn Hass auf sexuelle, aber auch andere Minderheiten als Tatmotiv nachgewiesen werden kann.
Nicht nur die LGBTQ-Community kämpft gegen Diskriminierung. Immer mehr georgische Frauen tun es auch. Denn was die Gleichstellung von Mann und Frau betrifft, vertritt die Kirche ebenfalls einen reaktionären Standpunkt – und beeinflusst damit das Frauenbild der ganzen Gesellschaft. Im Deutschlandfunk wird der greise Patriarch Ilia II. wie folgt zitiert: „Heutzutage heißt es, dass die Ehefrau und der Ehemann gleich sind. Die Heilige Schrift aber sagt, dass der Mann das Oberhaupt des Hauses ist. Die Familie ist ein Körper und der Körper kann nicht zwei Köpfe haben.“ „Das patriarchalische System ist tief im Alltag georgischer Familien verwurzelt“, sagt Bienert. „Umso mehr beeindruckt mich die Stärke vieler georgischer Frauen.“ Als Beispiel nennt er seine gute Freundin Nia Gvatua.
Wie die meisten Georgierinnen hat sie früh geheiratet, um aus ihrer patriarchalisch geprägten Familie auszubrechen. Doch in der Ehe läuft es nicht besser. Mit heute 27 Jahren ist sie zweimal geschieden und hat einen 11-jährigen Sohn. Alles andere als einfach ist auch ihr beruflicher Werdegang – weil sie sich klar auf die Seite der LGBTQ-Community stellt. Nia designt das Interieur des Bassiani und übernimmt die „Success Bar“, die einzige Schwulenbar in Tiflis. Ab diesem Zeitpunkt ist der Name Programm: Die Gestaltung der beiden kleinen Räume ist stylisch, die Musik top – queere Menschen kommen in Scharen und bringen den erhofften Erfolg. Aber auch Anfeindungen. „Homophobe Attacken auf die Bar haben Nia nicht abgeschreckt“, erzählt Bienert. „Trotz mangelnder Unterstützung durch die Polizei lässt sie sich nicht unterkriegen. Ich bewundere ihren Mut.“
Apropos Polizei: Für die Technoszene ist sie eher Feind als Freund. Das zeigte sich besonders am 12. Mai 2018, als eine Spezialeinheit das Bassiani stürmt und die Gäste einkesselt. „Zuerst dachten wir an einen Terroranschlag“, erinnert sich ein Besucher. „Wir dachten, die Polizei sei da, um uns vor irgendetwas zu schützen.“ Doch plötzlich wurden Dutzende Personen abgeführt, darunter auch der Besitzer des Bassiani, Tato Getia. Die Bilder des Polizeieinsatzes, begründet als Razzia gegen Drogen, gingen um die Welt – ebenso wie die Reaktion der Raver. Die verstanden den Polizeieinsatz als Angriff auf ihren Lebensstil, versammelten sich am nächsten Morgen vor dem georgischen Parlament und protestierten: tanzend zu Elektroklängen.
Im Nachhinein betrachtet habe die Polizeiaktion eher genützt als geschadet, glaubt Bienert. Journalisten berichten weltweit über die „Rave Revolution“, was den Ravern viel Solidarität und der Regierung Negativschlagzeilen beschert. Allerdings fand die Polizei tatsächlich Drogen (in sehr geringen Mengen), und acht Leute wurden später verurteilt. Trotzdem kommt in die drakonische Drogenpolitik der Regierung – eine Pille Ecstasy kann mehrere Jahre Haft bedeuten – Bewegung. Als erster Satellitenstaat der ehemaligen Sowjetunion legalisiert Georgien im August 2018 den Konsum von Cannabis zu Genusszwecken. Die Technoszene feiert das Gerichtsurteil als großen Erfolg, allen voran der Kläger und liberale Politiker Zurab Japaridze: „Dies war kein Kampf für Cannabis, das war ein Kampf für die Freiheit.“
Um die Freiheit gehe es auch seinen Gästen, sagt Bassiani-Besitzer Tato Getia in einem Interview mit der ARD: „Für mich ist Bassiani nicht nur ein Club, es ist eine ganze Generation junger Georgier. Eine Bewegung, die in diesem Land für Freiheit und eine bessere Zukunft kämpft.“ Die Hoffnungen sollte man dennoch nicht zu hoch schrauben, findet Patrick Bienert: „Die Raver spüren, dass sie gemeinsam stark sind und etwas verändern können. Allerdings darf man nicht vergessen: Sie sind keine Politiker. Ihnen geht es hauptsächlich darum, Party zu machen und Spaß zu haben.“
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Der Münchner Patrick Bienert fotografiert für renommierte Zeitungen und Zeitschriften wie das „New York Times Magazine“, die italienische „Vogue“ oder das britische Magazin „Dazed & Confused“. „Mit Modefotografie kann man besser Geld verdienen“, sagt der 39-Jährige. „Aber Dokumentarfotografie ist meine Leidenschaft.“ Im Januar 2020 erschien sein Bildband über Georgien „East End of Europe“.
Obwohl Georgien auf dem Papier ein säkularer Staat ist, staatliche und religiöse Institutionen also strikt getrennt sind, übt die Kirche einen starken Einfluss auf die Politik aus. Als Staatsreligion genießt sie einen Sonderstatus, ihr werden als einziger Religionsgemeinschaft zum Beispiel Sonderrechte wie Steuerfreiheit zugebilligt.
Die meisten Georgier pflegen ein patriarchalisches System, das von der orthodoxen Kirche befürwortet wird. Dabei ist ausgerechnet eine Frau für die Bekehrung zum Christentum verantwortlich. Die syrische Konvertitin Nino hat Georgien im Jahr 337 missioniert – damit ist Georgien das zweitälteste christliche Land der Erde.
Besonders nach den Kriegen in den 1990er Jahren und dem Fünftagekrieg 2008 mit dem großen Nachbarn Russland suchen viele Georgier Halt im Glauben. Sie bekreuzigen sich vor jeder Kirche, an der sie vorbeigehen oder -fahren, küssen Ikonen und verehren den Patriarchen. Kein Wunder, schließlich besetzt die orthodoxe Kirche das ideologische Vakuum, das die Kommunistische Partei in der nachsowjetischen Ära hinterlassen hat.
LGBTQ-Community: Die Abkürzung entspricht den englischen Wörtern für Lesbian, Gay, Bisexual, Transgender and Queer. Die Homosexuellenrechtebewegung hat mit der Parole „We are here, we are queer, get used to it!“ dafür gesorgt, dass das früher als Schimpfwort gebrauchte „queer“ – schwul – seine diskriminierende Wirkung verloren hat und im heutigen Sprachgebrauch wertneutral verwendet werden kann.
Besonders, wenn es um Restaurants, Cafés, Bars und Clubs geht, fühlt man, wie sehr es Tiflis nach Europa zieht. So hat die georgische Hauptstadt zum Beispiel ein „Hofbrauhaus“, wo es deutsches Bier und Schnitzel gibt, ein „MacLaren’s Irish Pub“ oder eine Bar mit dem französischen Namen „Moulin Electrique“.
In Anspielung auf die Lage Georgiens zwischen zwei Kontinenten lautet ein beliebter Spruch unter Einheimischen:
„In Georgien sind die Frauen aus Europa und die Männer aus Asien.“ Tatsächlich sieht sich die Mehrheit der Männer gerne in der Rolle des Paschas, während sich vor allem die jungen Frauen mehr Freiheit nach westlichem Vorbild wünschen.