Digitales Wunderland
Estland ist das einzige Land der Welt, in dem man per Mausklick von zu Hause aus wählen kann. Kein Gang mehr ins Wahllokal, kein Wahlzettel muss ausgefüllt und in eine Wahlurne gesteckt werden. Es reichen wenige Klicks, um ganz entspannt von zu Hause aus die Stimme bei Kommunal-, Parlaments- oder Europawahlen abzugeben. Aber nicht nur das: Fast alle Verwaltungsakte – von der Steuererklärung über die Anmeldung eines Autos oder einer neuen Wohnadresse bis hin zu Strafzetteln – können online erledigt werden. Damit ist Estland die digital am meisten entwickelte Gesellschaft der Welt.
Dieses digitale Paradies erregt bei Politikern und Wissenschaftlern aus aller Welt Interesse: Kann das ein Vorbild fürs eigene Land sein? Wieso spielt gerade das kleine Estland eine Vorreiterrolle? Welche Erfahrungen hat es mit der Digitalisierung gemacht? Welche Vor- und Nachteile ergeben sich daraus?
Zu Gast im e-Estonia Briefing Centre
Wer sich über diese Fragen informieren möchte, landet früher oder später im e-Estonia Briefing Centre in Tallinn bei Florian Marcus oder einer seiner Kolleginnen. Der gebürtige Hamburger arbeitet seit zwei Jahren als Digital Transformation Adviser für dieses Aushängeschild des estnischen Staates und erklärt Interessierten den estnischen Weg zur Digitalisierung. Im Showroom demonstriert er Besuchern zum Beispiel, wie modernes Wählen geht: die ID-Karte in den Laptop schieben, die PIN 1 zur Authentifizierung eingeben, dann für einen Kandidaten stimmen, PIN 2 eintippen, mit der man dann sozusagen eine rechtlich verbindliche Unterschrift tätigt. Und schon hat man abgestimmt.
Florian Marcus zeigt aber nicht nur, wie man in Estland digital wählt, sondern berät auch Politiker und Firmenchefs in puncto Digitalisierung. Von Vertretern namhafter Automobilhersteller oder Telekommunikationsunternehmen bis hin zu Delegationen aus der Ukraine und Georgien, Bhutan und Irland reicht die Palette der Gäste. „Wir pflegen auch gute Beziehungen zu vielen deutschen Bundesländern“, sagt Florian Marcus. „Und es ist kein Geheimnis, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel vor ein paar Jahren bei uns zu Besuch war.“
Insgesamt hatte das Briefing Centre im Jahr 2019 über 11.000 Besucher aus mehr als 130 Ländern zu Gast. „Es ist schön zu sehen, dass die Digitalisierung weltweit ernster genommen wird und wir helfen selbstverständlich gern bei der Entwicklung.“, freut sich Marcus.
Eine Woche Tartu, für immer Estland
Wie ist er selbst beim e-Estonia Briefing Centre gelandet? Auch nach einem Besuch? „Nein“, schmunzelt Marcus. „Das ist eine lange Geschichte. Vor sieben Jahren habe ich herausgefunden, dass ich am selben Tag geboren wurde, an dem Estland seine Unabhängigkeit wiedererlangte: am 20.8.1991. Dieser Zufall hat mich neugierig gemacht, sodass ich das Land Anfang 2014 besuchte. Eine Woche in Tartu reichte, um zu wissen, dass ich hier gern eines Tages leben würde. Ich habe dann parallel zu meinem Politikwissenschaftsstudium in England ein Master-Programm an der Uni Tartu absolviert.“
Nur geheiratet wird noch analog
Wenn Florian Marcus über Digitalisierung spricht, ist er kaum zu bremsen. Seine Begeisterung überträgt sich auf jeden Besucher. „Es ist unglaublich, wie die Digitalisierung hier das Leben erleichtert. Auch oder gerade für mich als Ausländer. Als ich nach Estland gezogen bin, musste ich zweimal zur Polizei – einmal, um mich für den estnischen Personalausweis anzumelden und einmal, um ihn abzuholen. Und das war’s an Kontakten mit Behörden. Mit diesem Personalausweis, der als ID-Karte fungiert, kann ich quasi alle Dienstleistungen nutzen, die auch Esten zustehen. 99 Prozent aller staatlichen Dienstleistungen sind digital zugänglich; dazu gehört die digitale Krankenakte, die digitale Unterschrift, die Online-Steuererklärung und vieles mehr. Nur Heirat und Scheidung müssen momentan noch notariell beglaubigt werden, aber auch dieser Prozess soll ab nächstem Jahr online funktionieren.“
Nicht nur Florian Marcus lässt sich von der digitalen Entwicklung mitreißen, auch die Esten selbst scheinen davon begeistert. Immer mehr nutzen die staatlichen Dienste ausschließlich online und wählen auch online. Übrigens – niemand wird gezwungen, seine Steuererklärung digital abzugeben, Online-Banking zu machen oder digital zu wählen – es steht jedem frei, und es gibt immer auch eine analoge Alternative. Aber die Statistik zeigt, dass die Esten den von der Regierung eingeschlagenen Weg mitgehen. Rund 80 Prozent erledigen 2018 ihre Bankgeschäfte online (Deutschland 50 Prozent), rund 95 Prozent reichen ihre Steuererklärung digital ein (Deutschland ca. 80 Prozent) – und 46,7 Prozent aller Stimmen wurden bei den Europaparlamentswahlen 2019 digital abgegeben.
Gründe für den Fortschritt
Wieso sich diese Digitalisierung des Alltags gerade in Estland durchsetzen konnte? Dazu hat Markus Reiners, habilitierter Politikwissenschaftler und Privatdozent an der Leibniz Universität Hannover geforscht. In einem Artikel für die Bundeszentrale für Politische Bildungsarbeit fasst er seine Ergebnisse zusammen: Estland sei ein Land mit einer geringen Bevölkerungsdichte – und weite Wege zur Wahl erhöhten die Akzeptanz eines digitalen Systems. Außerdem sei Estland eine sehr junge Demokratie, die nach der Unabhängigkeit quasi von Null auf neue, digitale Verwaltungsstrukturen aufbauen konnte – und sich dezidiert auch für diesen Weg entschieden hat. Außerdem wäre die Entscheidung für eine weitgehende Digitalisierung der Verwaltung im Laufe der Jahre und Jahrzehnte von allen Regierungen und den verschiedenen politischen Lagern mitgetragen worden. Und schließlich sei bei den Esten eine große Bereitschaft vorhanden, auch sensible Daten über das Internet zu übertragen, da sie großes Vertrauen in neue Technologien hätten.
Ein Cyberangriff macht nachdenklich
Aber ist dieses Vertrauen auch gerechtfertigt? Sind mit dieser Mega-Digitalisierung nicht auch Gefahren verbunden? Florian Marcus winkt ab: „Ganz und gar nicht. Zwar gab es im Jahr 2007 großangelegte Cyberangriffe auf die estnischen Systeme, das war selbstverständlich eine unangenehme Überraschung, aber auch ein ausgezeichneter Test. Keine einzige Datenbank wurde während dieser Attacken geknackt, kein einziger Datensatz wurde verändert, kopiert oder entwendet. Das war eine Bestätigung dafür, dass unsere Systeme grundsätzlich gut funktionieren.“ Dennoch hat Estland Konsequenzen aus den Vorfällen gezogen. „In Estland wird nicht nur die digitale Infrastruktur ständig aktualisiert und verbessert, unter anderem in Hinblick auf Quantencomputer, die binnen weniger Sekunden heutige Verschlüsselungsmethoden knacken könnten. Unser Fokus liegt momentan stark auf dem Thema Cyberhygiene, da die meisten Cyberangriffe nicht wegen mangelhafter Verschlüsselung geschehen, sondern weil ein unvorsichtiger Mitarbeiter auf die falsche E-Mail klickt und sein gesamtes Unternehmen für ein Schadprogramm öffnet.“
Skype & Co
Der Glaube an den digitalen Fortschritt beseelt nicht nur die estnische Verwaltung, sondern auch die Gesellschaft. Legendär ist die Erfolgsgeschichte von Skype, dessen Software von drei estnischen Entwicklern geschrieben wurde. Heute gehört Skype zu Microsoft. Und in Estland war man auch mit weiteren Start-ups erfolgreich. Das Land zählt mittlerweile drei „Einhörner“, Internetunternehmen, die mehr als eine Milliarde Dollar wert sind: das Online-Glückspiel-Unternehmen Playtech, den Online-Geldtransfer-Service TransferWise und den Uber-Konkurrent Taxify (mittlerweile zu Bolt umfirmiert).
In 20 Minuten zur Unternehmensgründung
Wie lassen sich diese Erfolge der Start-up-Szene in einem so kleinen Land mit nur 1,3 Millionen Einwohnern erklären? Florian Marcus sieht einen Zusammenhang zwischen der Digitalisierung und den Erfolgen der Start-up-Szene: „Wenn Sie eine tolle Idee für ein Start-up haben, können Sie in Estland innerhalb von zwanzig Minuten Ihr Unternehmen online gründen und sofort mit der Arbeit beginnen. Die Barrieren für die Unternehmensgründung, sowohl zeitlich als auch finanziell, sind hier sehr niedrig. Digitale Unterschriften ermöglichen es, alle notwendigen Verträge mit Zulieferern, zukünftigen Mitarbeitern oder externen Beratern binnen Sekunden ortsunabhängig rechtskräftig zu machen.“ Aber die Digitalisierung hilft nicht nur bei der Start-up-Gründung. Die Start-ups helfen auch bei der weiteren Digitalisierung der Verwaltung. „Zum beispielsweise haben wir im Bildungsbereich viele junge Unternehmen, die mit neuen Lösungen die estnische Strategie für lebenslanges Lernen vorantreiben“, weiß Florian Marcus. „Generell ist der Informationsaustausch zwischen Staat und Privatwirtschaft sehr eng in Estland, und da der Staat als attraktiver, innovativer Arbeitgeber gilt, ist es kein Unding, als CEO eines Start-ups auszusteigen und für ein paar Jahre im Ministerium mitzumischen. Dieser Austausch tut beiden Seiten gut.“
Partyarea für Nerds
Und wo kann man in Estland die Nerds aus der Start-up-Szene und die Hipster aus den Behörden nicht nur digital, sondern auch ganz analog treffen? „Da geht man am besten ins Kreativquartier Telliskivi in Tallinn,“ rät Florian Marcus. „Da trifft man sich im Ambiente alter Industriehallen in hippen Bars und Cafés und abends kann man hier auch toll essen gehen, zum Beispiel im „Kivi Paber Käärid“, zu deutsch „Stein, Papier, Schere“. Und es gibt spannende Ausstellung, Konzerte oder Podiumsdiskussionen ...“ Der richtige Ort also, um auch mal offline so richtig Gas zu geben – und über den Internet-Ideen für morgen zu brüten.