Die kleine Republik jenseits des Flusses
Auf der anderen Seite des Flusses Vilnia beginnt in Vilnius das kreative Chaos. Die litauische Hauptstadt zieht Besucher vor allem wegen ihrer UNESCO-gekrönten Altstadt an. Doch wer vom Rathausplatz Richtung Osten geht und eine der sieben Brücken überquert, landet plötzlich in einer ganz anderen Welt.
Es stehen alte Klaviere herum, auf denen jeder spielen darf, und ein Zebra-Schaukelpferd wartet auf kleine und große Reiter. Unter einer der Brücken hängt eine Bank, auf der man dem Fluss beim Vorbeifließen zusehen und dabei mit den Füßen durchs Wasser streifen kann.
Bunt bemalte Hauswände und Street-Art an jeder Straßenecke machen deutlich, wie kunst- und kulturverliebt man hier ist. „Republik Uzupis“ steht auf einer Art Ortsschild, darunter sind unter anderem ein Smiley und die Mona Lisa abgebildet. Ein Scherz? Nein, ja, vielleicht – so genau weiß das wahrscheinlich niemand. Fest steht nur, dass eine Gruppe von Künstlern am 1. April 1998 hier im Viertel Uzupis die gleichnamige Republik ausgerufen hat, die bis heute besteht und inzwischen selbst eine Sehenswürdigkeit geworden ist.
Obwohl Uzupis völkerrechtlich nicht anerkannt ist, nehmen die Macher ihre kleine Republik sehr ernst – natürlich immer mit einem Augenzwinkern. Es gibt unter anderem einen Präsidenten, einen Außenminister, eine Regierungskneipe, Flaggen für jede Jahreszeit, eine Verfassung und rund 500 Botschafter weltweit. Einer davon ist Max Haarich. Der Münchner hat Uzupis 2014 durch Zufall entdeckt, als er Urlaub in Litauen machte. Die Künstlerrepublik faszinierte ihn und ließ ihn auch zuhause nicht mehr los. 2017 schrieb der heute 37-Jährige an Außenminister Tomas Chepaitis und bat darum, zum Botschafter ernannt zu werden – was kurz darauf tatsächlich geschah. „Das ging ganz einfach. Ich bin nach Vilnius geflogen und habe in der Regierungskneipe einen Vortrag über meine Motivation gehalten – die Verbindung von Technologie und Kunst“, erzählt Haarich, der selbst Künstler sowie Ethikberater ist. Was ihm persönlich am besten an der Republik gefällt? „Uzupis bietet eine ganz andere Sichtweise auf die Dinge. Und die Verfassung spiegelt ein ganz liebevolles Denken wider, das man sonst in der Politik nicht findet“, so der Münchner.
Eine Verfassung voller Liebe und Politik in der Regierungskneipe
Das findet offenbar auch Papst Franziskus, der die Verfassung 2018 bei einem Besuch gesegnet hat. In den insgesamt 41 Artikeln steht zum Beispiel: „Jeder Mensch hat das Recht zu lieben.“ Oder: „Jeder Mensch darf frei sein.“ Oder aber auch: „Jeder Mensch hat das Recht, manchmal nicht zu wissen, ob er Verpflichtungen hat.“ Die Verfassung wurde bisher in über 50 Sprachen übersetzt und ist in den Straßen von Uzupis auf zahlreichen Wandtafeln zu finden. Bei so manchem Besucher mag die Künstlerrepublik erst einmal ein Fragezeichen hinterlassen. Dabei geht es gerade um das Absurde, Freidenkerische, die Abkehr von dem üblichen Schwarz-Weiß. „Im deutschen Grundgesetz kommt zum Beispiel kein einziges Mal das Wort ‚Liebe‘ vor“, sagt Botschafter Max Haarich. Warum ist das so? Was macht Menschen glücklich? Wie funktioniert ein gutes Miteinander? Uzupis hinterfragt Selbstverständlichkeiten und scheint damit manchmal mehr ein Konzept als ein Ort zu sein.
Doch auch das Viertel selbst ist interessant. 7000 Menschen leben in der nur 0,6 Quadratkilometer großen Republik, darunter 1000 Künstler aller Sparten. Wer durch die Straßen streift, entdeckt nicht nur unzählige Kunstwerke wie das Zebra-Schaukelpferd oder eine Jesus-Statue mit Blumenkette und Rucksack, sondern auch hippe Cafés und Boutiquen, Galerien und Werkstätten. Die Altbauten sind mal mehr, mal weniger saniert, Autos holpern über die Kopfsteinpflasterstraßen, auf dem alten Klosterfriedhof zwitschern die Vögel. Auf dem kleinen Hauptplatz thront auf einer Säule das Maskottchen der Republik: der Engel von Uzupis, der 2002 von einem einheimischen Künstler angefertigt wurde und sogar sprechen kann – Gesprächswillige scannen dafür einfach den QR-Code am Sockel der Statue. Nicht weit davon liegt der mit Gebetsfahnen geschmückte Tibetplatz, der anlässlich eines Besuchs des Dalai Lama, der übrigens Ehrenbürger von Uzupis ist, eingeweiht wurde.
Fast nebenan befindet sich der Kunst-Inkubator, eine Art Talentschmiede für Maler, Bildhauer und Designer, die ihre Werke gerne auch mal direkt auf den Straßen des Viertels ausstellen. Und dann ist da noch die Regierungskneipe, die Botschafter Max Haarich ganz besonders empfiehlt: „Auf jeden Fall anschauen – dort ist jeden Montag Regierungstreffen.“ So nah kommt man der großen Politik wohl selten.
Eine neue Herausforderung für die Republik
So bunt wie heute war das Leben in Uzupis nicht immer. Bereits im 16. Jahrhundert entstanden, zählte es lange Zeit zu den ärmsten Vierteln von Vilnius. Bis zum Zweiten Weltkrieg lebten in der Gegend vor allem Juden. Die meisten von ihnen wurden von den Nationalsozialisten ermordet, in ihren verlassenen Häusern ließen sich nach 1945 Kriminelle und Prostituierte nieder. „Die Hauptstraße wurde lange Zeit ‚Straße des Todes‘ genannt – wegen der herrschenden Gewalt“, berichtet Haarich. Viele Häuser waren verfallen, manche hatten keinen Strom oder kein fließendes Wasser. Uzupis verwahrloste zunehmend, bis eine Handvoll Hausbesetzer das Viertel nach dem Zerfall der Sowjetunion für sich entdeckte, darunter auch der heutige Außenminister Tomas Chepaitis. Das sprach sich herum, Künstler und Studenten der nahegelegenen Kunstakademie zogen nach, der Wohnraum war billig. Um dem Viertel eine neue Identität zu verleihen, riefen ein paar Bewohner rund um den Filmemacher Romas Lileikis, heute immer noch Präsident, und Schriftsteller Chepaitis 1998 schließlich die unabhängige Republik Uzupis aus.
Heute ist Uzupis ein lebenswerter Ort, der manchmal mit der Freistadt Christiania in Kopenhagen oder dem Pariser Montmartre verglichen wird. Doch wie so viele Künstlerviertel ist inzwischen auch die kleine Republik mit Gentrifizierung konfrontiert. Durch die Aufwertung des Viertels sind die Mieten gestiegen, Gutverdiener ziehen hin, die ersten Künstler wieder weg. „Das ist eine riesige Herausforderung“, sagt Botschafter Max Haarich. „Aber vielleicht muss das auch so sein: Uzupis ist immer im Fluss, irgendwo entsteht immer ein neues Uzupis.“
Gut zu wissen:
- „Uzupis“ bedeutet übersetzt „jenseits des Flusses“ oder „auf der anderen Seite des Flusses“.
- Begehrtes Souvenir: Im „Republic of Uzupis Information Centre“ können sich Besucher einen Stempel für ihren Reisepass holen.
- Die Verfassung von Uzupis in ganzer Pracht und in den verschiedensten Sprachen gibt es hier nachzulesen. (Für die deutsche Fassung ist eine Weile Scrollen nötig – oder einfach auf der Seite nach „Verfassung“ suchen.)
- „Jeder kann Bürger von Uzupis werden, sobald man ausspricht, dass man es ist“, so Max Haarich. Auf der Website seiner Münchner Botschaft können Interessenten alternativ auch einen charmanten Einbürgerungsantrag ausfüllen – anzugeben sind u. a. die Lieblingsfarbe und das Lieblingstier.
- Jeder Botschafter hat die Aufgabe, an der Uzupis University zu lehren. Allerdings existierte sie bisher immer nur dort, wo jemand angab, gerade im Namen der Universität vorzutragen. Seit Mitte Oktober gibt es die Universität auch als Website, die vom Lithuanian Council for Culture offiziell gefördert wird. Max Haarich leitet dort die Fakultät für Kunst und Technologie mit dem zugehörigen Institut für Angewandte Paradoxie.